18.12.2020

Wir werden spielen

DIE BÄRTE SIND ABRASIERT, DAS OBERAMMERGAUER PASSIONSSPIEL 2020 IST UM ZWEI JAHRE VERSCHOBEN. DOCH DAS TEAM UM SPIELLEITER CHRISTIAN STÜCKL STECKT SCHON WIEDER MITTEN IN DEN PLANUNGEN, DER KARTENVORVERKAUF LÄUFT

Die coronabedingte Absage war zunächst ein Schock. Wann haben Sie wieder neuen Mut gefasst?

Christian Stückl (CS): Ich wusste zunächst nicht genau, wie ich reagieren sollte. Für uns war klar, es würde nicht ausreichen, das Spiel auf 2021 zu verschieben: 450.000 Karten zuerst zurückzubuchen und dann wieder zu verkaufen ist einfach nicht machbar innerhalb dieser kurzen Frist. Das Passionsspiel auf 2022 zu legen war dann der richtige Schritt. Im Augenblick sind wir optimistisch, dass wir 2022 vor vollem Haus spielen können. Der Vorverkauf ist wieder sehr gut angelaufen. Vielleicht hat sich die Situation auch schon ein wenig gelöst, wenn ich im Januar 2022 wieder mit den Proben auf der Bühne beginne.

Markus Zwink (MZ): Über die Entscheidung von oben war ich nicht nur traurig, sondern auch erleichtert, denn die letzten Proben, auf denen ich noch versucht hatte, die Leute zu motivieren, obwohl mir längst klar war, dass es nicht mehr weitergehen würde, verliefen sehr zäh und fühlten sich irgendwie unehrlich an. Dass wir drei Dirigenten uns dann in der Zwischenzeit getroffen und die Partitur noch auf Edelpolitur gebracht haben, die Passion also nicht ganz aus dem Fokus war, hat mir sehr gut getan. Sobald es möglich war, habe ich dann Proben initiiert, denn die Leute müssen ja im Hinblick auf 2022 im Training bleiben.

Stefan Hageneier (SH): Als sich andeutete, dass es tatsächlich zu einer Absage oder Verschiebung kommen könnte, habe ich mich daran erinnert, dass das 1920er Spiel auf 1922 verschoben wurde. Das machte es noch unwirklicher: Die Geschichte kann sich doch nicht exakt 100 Jahre später eins zu eins wiederholen! Jetzt ist es doch passiert, und wir wissen immer noch nicht, ob wir 2022 wieder normal spielen können.

 

Wie gehen Sie mit der Masse an Mitwirkenden um?

CS: Das ist ein schwieriger Punkt. Den aktuellen Auflagen nach benötigt ein Schauspieler zehn Quadratmeter – somit würden in Oberammergau nur 80 Darsteller gleichzeitig auf der Bühne stehen können. Man kann sich natürlich vorstellen, die „Passion“ mit weniger Leuten zu spielen. Um 1900 haben etwa 650 mitgespielt – heute haben wir mit Kindern 2.400.

MZ: Im Orchestergraben, der 60 Leute fasst, wären wir mit den Abständen, die momentan gehalten werden müssen, bei nur 15 Musikern. Beim Chor, den wir eigens auf 64 Personen aufgestockt hatten, müssten wir in den Aufführungen eventuell zur Anzahl von 2010, also 44, zurückkehren und dafür einfach öfter durchwechseln. Aber natürlich hofft man, dass wir 2020 mit voller Besetzung spielen und singen können.

SH: Bei den Lebenden Bildern könnte man die Abstände schon einhalten. Obschon einige, zum Beispiel „Die eherne Schlange“, auch von der Vielzahl der Menschen im Bild leben. Gemessen an der Masse von Mitwirkenden, haben wir aber generell viel zu kleine Garderoben und Gänge.

 

Bedeutet das, Sie müssen die Inszenierung komplett neu planen und überarbeiten?

SH: Bis jetzt hoffe ich auf Impfungen oder auf verbesserte und vereinfachte Testungen. Am Burgtheater habe ich gerade eine Produktion gemacht, bei der das gesamte Team wöchentlich getestet wurde. Dafür durfte auf der Bühne wie gewohnt ohne Abstand agiert werden.

CS: Die Planung ist eine Herausforderung, denn welche Auflagen in zwei Jahren gelten, ist noch nicht absehbar. Eines steht jedoch fest: Wir werden spielen, das Gelübde erfüllen und die Tradition der Passionsspiele fortführen.

SH: Das Passionsspiel 2022 unter „normalen“ Bedingungen aufführen zu können: Ich finde, das ist ein geradezu erlösender Gedanke. Viele unserer Zuschauer würden das vermutlich auch so wahrnehmen.

Der musikalische Leiter und Dirigent Markus Zwink, der Spielleiter Christian Stückl und der Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier (Foto: Gabriela Neeb)

Fließt denn auch inhaltlich die aktuelle weltpolitische Situation in Ihre Gedanken mit ein?

CS: Es reicht mir nicht mehr, dass Jesus schöne Worte sagt. „Warum versteht ihr meine Worte nicht? Warum verändert ihr euch nicht?“ Das sind fast flehende Jesus-Sätze, eine Wut auf die Welt. Seine Mission ist eigentlich eine gescheiterte Mission, denn nach 2000 Jahren Christentum haben wir seine Botschaften immer noch nicht umgesetzt. In der aktuellen Krise gehen fast alle anderen Themen unter. Ich habe nicht das Gefühl, dass Corona uns besser macht, dass wir mehr über Religiöses, über Gott nachdenken. Und derweil wachsen all die anderen Probleme, ohne dass wir wirklich fähig wären zu handeln.

MZ: Theater ist ja möglicherweise immer ein Stück weit politisch – unser Spiel ist es ganz sicher.

CS: Wir haben aus der Tradition heraus die Leidensgeschichte Jesu gespielt. Aber eigentlich müssen wir erst einmal die Lebensgeschichte Jesu spielen. Man nimmt das alles so hin, man hat das Ende immer schon im Kopf, man weiß, er stirbt am Kreuz. Aber warum? So versucht man mit jedem Passionsspiel auch politischer zu werden.

 

Identifikation oder Irritation – Messias oder Antiheld? Was ist Ihnen wichtiger?

CS: Eine klare Identifikationsfigur ist Jesus nicht. Er wirft Fragen auf und soll irritieren. Trotzdem muss man natürlich an der Figur dranbleiben können im Spiel.

SH: Ich habe den „Messias“ von Robert Wilson in Salzburg gesehen – da tritt bei der Auferstehung ein Astronaut auf. So weit sind wir schon! [Lachen.]

 

Birgt die Figur des Jesus immer noch, trotz der intensiven Beschäftigung, Rätsel?

CS: Du denkst immer: Ein menschlicherer Jesus? – Ja. – Aber was bedeutet das eigentlich? Wie derb konnte Jesus werden, wie viel Humor hatte Jesus, wie stur war er? Es ist total verrückt, wie einem die Figur dann doch Rätsel aufgibt, wenn man sich die Frage stellt, wie würde Jesus heute reagieren: in einer Zeit, in der die Kluft zwischen Arm und Reich größer wird, in der Flüchtlinge durch die Welt irren und ausgegrenzt werden, in der „die Liebe unter den Menschen kalt wird“. Der wichtigste Aspekt ist für mich, dass Jesus an die Ränder der Gesellschaft geht und sich um die kümmert, die ausgegrenzt werden. Vielleicht hat dieser Jesus, den wir versuchen zu greifen, auch wahnsinnig viel mit uns selbst zu tun. Deswegen ist ganz wichtig, dass alles, was Jesus sagt, im Hier und Jetzt verankert ist.

 

Tradition oder Veränderung – inwiefern stellt sich Ihnen diese Frage jedes Mal?

SH: Ich habe öfter aus dem Profitheaterbereich die Frage gehört: „Und? Macht ihr’s jetzt mal wirklich modern?!“ Dann müssen wir unsere Herangehensweise eher verteidigen und erklären, warum das in Oberammergau einfach ganz anders ist. Für mich hat sich bisher nicht die Frage gestellt, ob man Jesus besser in heutiger Kleidung zeigt, damit es vielleicht vordergründig zeitgenössischer wirkt. Die Auseinandersetzung mit der Bilderwelt der christlichen Kunstgeschichte reizt mich immer noch mehr als eine oberflächliche Übertragung.

CS: Es gibt eine unausgesprochene Verabredung, dass man mit den Kostümen und dem Bühnenbild in irgendeiner Weise historisierend verfährt. Dass man Jesus in den Texten nicht ganz neu erfindet, sondern sich am Material der Evangelien orientiert. Trotzdem hat sich natürlich viel getan. Wir fühlen uns schon frei, gehen aber in der Grundstruktur mit der Tradition um, die über die Jahrzehnte entwickelt worden ist.

 

Spielt auch die Veränderung des eigenen Blickwinkels eine Rolle?

CS: Natürlich spiegelt sich auch die eigene Veränderung im Spiel. Wir können ja nicht stehenbleiben. Wir sind ja von Berufs wegen gefordert, uns immer wieder neu zu hinterfragen, uns immer wieder auseinanderzusetzen mit dem Ganzen.

 

Was ist Ihre Motivation, sich immer wieder neu mit dem Passionsspielstoff auseinanderzusetzen?

MZ: Bestimmte Situationen immer wieder zu hinterfragen, finde ich wichtig. Zum Beispiel der Begriff „Ecce Homo“, der ja von kirchlicher Seite vorgeprägt ist und eigentlich nur heißt: „Siehe den Menschen“. Vielleicht kommt man im Spiel zu anderen Deutungen als den herkömmlichen. Selbst wenn der Zuschauer mit diesen Deutungen nicht einverstanden ist, so hat er sich zumindest damit auseinandergesetzt.

SH: Ich finde richtig, dass wir die Geschichte möglichst eindringlich erzählen – und nicht so viel Energie darauf verwenden, sie offensichtlich ins Heute zu übertragen. Aus der Geschichte an sich muss ja die Botschaft kommen. Das finde ich das Theatralische daran.

CS: Für mich ist die Auseinandersetzung mit den Spielern wichtig. Es macht mir Spaß, sie an die Geschichte heranzuführen, sie weiterzuführen, weiterzutreiben. Ich habe als Jugendlicher miterlebt, wie die katholische Kirche im Vorfeld des Passionsspiels Theologen und Priester nach Oberammergau geschickt hat, um Nachhilfeunterricht in religiösen Dingen zu geben. Die Spieler saßen dann bei uns im Wirtshaus mit einem Bier und haben sich irgendeinen Vortrag angehört. Das wollte ich nicht.

 

Denken Sie jetzt schon an die Zukunft des Passionsspiels? An die nächste Generation?

CS: Ja, wir haben über drei, vier Passionen hinweg sehr viel Energie investiert. Alle haben total Spaß daran. Aber ich wünsche mir, dass jetzt einmal irgendjemand von den Jungen aufsteht, der den ideellen Wert weiterträgt.

SH: Wenn man das Passionsspiel auf einem gewissen Niveau weitermachen und weiterhin so viele Zuschauer generieren möchte, wird man es weiter professionalisieren müssen. Trotzdem muss der Kern des Laientheaters bewahrt werden.

CS: Wir alle haben um uns herum Leute, die wir dahingehend fördern. Vielleicht kann man sich auch da auf die Tradition verlassen. Das Passionsspiel hält die Oberammergauer zusammen. Also: Es wird weitergehen.

Interview: Teresa Grenzmann
Foto: Gabriela Neeb

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