03.09.2019

Was lange gärt - Die Passionsspiele und der Antisemitismus

„Ich hatte das Gefühl, ich müsse aufstehen und den Tausenden, die im Zuschauerraum versammelt waren, erklären, dass das, was sie da hörten und sahen, so weit es den Juden darstellte oder typisierte, unhistorisch, falsch interpretiert und grausam in seinen Schlussfolgerungen ist.“ Rabbi Joseph Krauskopf stand nicht auf im Passionsspiel 1900, aber er beschrieb in einem langen Aufsatz die Eindrücke seiner Reise nach Oberammergau. Dass es im Grunde kein kleines Kompliment an die Juden sei, dass ein Stück voll jüdischer Charaktere in einem Sommer eine Viertelmillion Besucher aus aller Welt anziehe. Dass es aber umso schlimmer wäre, wenn dieses Stück die bereits existierenden Vorurteile gegen die Juden bestärke und sogar noch größeren Hass schüre. Krauskopf hatte sich auf die Aufführung gefreut, doch in dem Moment, als sie begann, war es vorbei mit dieser Freude. Er hatte sich eingebildet, als Tourist nach Oberammergau kommen, die Passion wie jedes andere Theaterstück anschauen zu können – aber das war nicht möglich. „Sobald die ersten Zeilen gesprochen wurden, wurde der Tourist zum Kritiker; der Reisende, der Theologe, der Kosmopolit zum Juden.“

Plakat für das Jubiläumsspiel der Passion 1934

Auch Christian Stückl weiß: „In der Historie aller Passionsspiele gab es immer einen latenten Antisemitismus. Die Juden wurden für den Tod Jesu verantwortlich gemacht.“ An die 400 Passionsspiele gab es in der Barockzeit in Bayern, sie waren immer auch ein Propagandamittel in einer nicht-lesenden Gesellschaft. Daran änderte sich über Jahrhunderte nichts. 1910 kam Lion Feuchtwanger nach Oberammergau, auch er beschrieb die Darstellung als judenfeindlich: „Die Aktion Christi beschränkt sich in Oberammergau darauf, dass er die Wechsler und Verkäufer aus dem Tempel jagt. Diese Szene hat der Oberammergauer Dramaturg mit bewundernswertem Ungeschick zum Ausgangspunkt der jüdischen Feindseligkeiten gemacht. Die Händler sind es, die Volk und Priester gegen Jesus aufschüren, die Händler gewinnen den Judas zum Verrat; dass er die Händler in ihrem Erwerb gehindert, darüber leidet und stirbt Jesus in Oberammergau.“

So erstaunt es wenig, dass Adolf Hitler, bekanntlich kein Freund der katholischen Religion, bei seinem Besuch 1930 schnell merkte, wie gut sich dieses Theaterspiel zur antisemitischen Stimmungsmache nutzen ließ. Er erklärt Pilatus zum Prototyp eines „rassisch und intelligenzmäßig“ überlegenen Römers, der „wie ein Fels inmitten des jüdischen Geschmeißes und Gewimmels wirke.“ Die Werbung für die Spiele, die 1934 zum 300-jährigen Jubiläum außer der Reihe stattfanden, übernahm Joseph Goebbels, auf den Plakaten stand: „Deutschland ruft Euch!“ Der alte, in der Kirche verfestigte Antisjudaismus kam zusammen mit einem neuen rassistischen Antisemitismus. Wegen des Zweiten Weltkriegs fiel das Spiel 1940 aus, in der Vorbereitung aber waren die Rollen nicht mehr vom Gemeinderat, sondern von der NSDAP vergeben worden – an stramme Parteimitglieder.

Die Spiele 1950 wurden – wie die 1922 nach dem Ersten Weltkrieg – als Friedensspiele propagiert. Man berief sich auf den 1934 von Kardinal Faulhaber erteilten offiziellen Lehrauftrag der Kirche, die „missio canonica“. Änderungswünsche, die unter anderem von Leonard Bernstein, Arthur Miller und Billy Wilder kamen, wurden standhaft ignoriert. Spielleiter Johann Georg Lang erklärte: „Wir haben ein reines Gewissen. Wir müssen ein Gelübde erfüllen, und unser Stück enthält nichts Anstoßerregendes."

Viele sahen das anders: Die Anti-Defamation League und das American Jewish Committee begannen, Analysen zu schreiben und Änderungsvorschläge zu machen. Auswirkungen auf das Spiel hatte das aber auch 1960 nicht: Lang, der die Passion zum fünften Mal machte, war 72 Jahre alt und an Veränderungen nicht interessiert. Erst in den 60er-Jahren gab es intensivere Gespräche in der Gemeinde, der relativ junge Hans Schwaighofer wurde zum Spielleiter gewählt. Der machte Reformvorschläge – die von der Gemeinde aber wiederum abgelehnt wurden. 1968 schließlich entzog Kardinal Döpfner Oberammergau wegen der Verweigerung jeglicher Reformen die „missio canonica“. Was schließlich dazu führte, dass 1977 ein Probe-Spiel stattfand auf der Basis eines älteren Textes als des bisher genutzten von Josef Alois Daisenberger aus dem Jahr 1860: der Fassung des Ettaler Benediktiner-Paters Ferdinand Rosner von 1750. Obwohl diese gut ankam, entschied der Gemeinderat, 1980 wieder alles wie gehabt zu machen.

Aufnahme von der "Rosnerprobe" 1977 mit Spielleiter Hans Schwaighofer

Spielleiter Christian Stückl 1990

Erst 1990, als Christian Stückl mit 27 Jahren seine erste Passion inszenierte, kam wieder Bewegung in die Reformfrage. Stückl wollte alle 18 Forderungen der Anti-Defamation League und des American Jewish Committees umsetzen, wurde aber vom theologischen Berater, den die katholische Kirche (die unter Joseph Ratzinger nun wieder konservativer geworden war) der Gemeinde zur Seite stellte, ausgebremst. „Nach so einer langen Zeit, in der wir unbeweglich waren, müssen wir das jetzt machen und schauen, dass wir die Vorwürfe aus der Welt schaffen“, so Stückl.

Doch die grundlegende Text-Reform konnte er erst bei seiner zweiten Passion im Jahr 2000 durchsetzen. Da schrieb er mit seinem Dramaturgen Otto Huber ganze Szenen neu und veränderte die Sicht auf die Rolle der Juden grundlegend. Das Passionsspiel wird zum innerjüdischen Konflikt, Fürsprecher und Widersacher finden sich in allen Gruppen, im Hohen Rat, im einfachen Volk und im Kreis der Getreuen. Jesus wird nicht mehr auf sein Leid beschränkt, sondern zum Kämpfer für seinen jüdischen Glauben. „Der Daisenberger-Text basierte fast ausschließlich auf dem Johannes-Evangelium“, so Stückl. „Da wird Jesus von Anfang an als Gottes Sohn propagiert, während Matthäus viel stärker den Menschen und Juden Jesus sieht. Mir geht es darum, Jesus runter auf den Boden zu holen und verstehbar zu machen.“ Nicht länger auf Klischees und Vorurteile zu setzen, sondern eine im Grunde allzu menschliche Geschichte zu ergründen. Schließlich, so Feuchtwanger, „haben die Oberammergauer als die alleinzigen auf der Welt das Privileg, den wundervollen Dramenstoff, den die Evangelien bieten, auf die Bühne zu bringen“.

Text: Anne Fritsch
Fotos: Passionsspiele Oberammergau

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