18.09.2019

Vom Wirtshaus nach Israel

Drinnen im Café lässt der Barmann ungerührt einen Espresso aus der Maschine, draußen schiebt sich eine kleine Prozession durch die enge Gasse. Fünf Männer und Frauen tragen ein großes Kreuz aus Holz, die anderen folgen ihnen singend. Auf der Via Dolorosa, dem Kreuzweg in Jerusalem, der auf 14 Stationen von der Altstadt zur Grabeskirche führt, ist das kein ungewöhnlicher Anblick. Unterwegs können die Pilger sich ein Kreuz mieten oder eine Dornenkrone kaufen. Die Religion ist auch ein gutes Geschäft in der heiligen Stadt.

Anfang September mischte sich noch eine andere Gruppe unter die Pilger, die Juden und Moslems, die in dieser Stadt mit- oder doch eher nebeneinander existieren. Das Kernensemble der Oberammergauer Passionsspiele 2020 reiste eine Woche zu den Orten, an denen Jesus gewirkt hat und die Teil der Legende geworden sind, durch Israel. Seit Christian Stückl 1990 zum ersten Mal die Passion inszeniert hat, ist diese Vorbereitungstour zur schönen Tradition geworden. Bis dato gab es Religionsunterricht im Wirtshaus, das fand Stückl zu trocken, geht es ihm doch darum, dem Menschen Jesus irgendwie auf die Spur zu kommen. Untergebracht war die Gruppe im Österreichischen Pilger-Hospiz direkt an der Via Dolorosa. Drinnen Wiener Kaffeehauskultur, draußen Falafel, Granatäpfel und Hummus. „Das ist eine Oase mitten in der Altstadt“, schwärmt Frederik Mayet, einer der Jesus-Darsteller. „Wenn man durch die Türe tritt, ist man in einer anderen Welt.“

Auf der Via Dolorosa in Jerusalem (Foto: Ursula Huber)

An der Klagemauer (Foto: Ursula Huber)

Einer, in der die Religion in ihren verschiedenen Ausprägungen eine so große Rolle spielt, wie sonst vielleicht nirgends auf der Welt. Am Freitagnachmittag kulminiert das religiöse Leben auf dem Platz vor der Klagemauer: „Unten beten die Juden zum Beginn des Sabbath, oben in der Moschee treffen sich die Moslems zum Freitagsgebet, und dazwischen tummeln sich christliche Pilger. Das ist wirklich einmalig“, so Mayet. Wenige Stunden später ein völlig anderes Bild, beschreibt Rochus Rückel, der zweite Jesus-Darsteller: „Am Sabbath sind  dann alle jüdischen Geschäfte geschlossen, die Gehsteige werden hochgeklappt. Das könnte man sich bei uns nie vorstellen, dass sich am Sonntag das ganze Leben ändert. Die Religion bestimmt dort den Alltag, sie ist der Punkt, um den sich alles dreht.“

Rückel bezeichnet sich als „christlich-religiös“, schätzt sich in einem imaginären „Ranking“ mit seinen katholischen Freunden „schon eher weit vorne ein“. Er hatte seine ganze Schulzeit Religionsunterricht und war regelmäßig in der Kirche. Trotzdem ist ihm erst während dieser Reise bewusst geworden, wie groß das Thema wirklich ist. Wieviel Interpretationsspielräume es gibt. Und wieviel man auf die aktuelle soziale Situation in unserer Welt beziehen kann. „Auch war mir nie klar, dass Jesus und seine Jünger tiefgläubige Juden waren“, sagt er. „Die haben keine neue Religion auf die Beine gestellt, sondern versucht, den jüdischen Glauben in seiner tiefster Form zu leben und zu vergessenen Werten zurückzukehren.“ Dass er die Schauplätze der Passion nun selbst gesehen hat, durch die Steppenlandschaft am See Genezareth gewandert ist, die Grabeskirche und den Tempelberg besucht hat, hilft ihm auch bei der Annäherung an seine Darstellung von Jesus. „Wenn ich mir jetzt meine Geschichte zusammenbaue, habe ich ein reales Bild von der Ortschaft im Hinterkopf. Ich kann mir vorstellen, wie es damals ausgesehen hat, das hilft mir, das authentisch zu spielen“, glaubt Rückel. Das geht Mayet ähnlich. Auch wenn sich natürlich viel verändert hat in den vergangenen 2000 Jahren: Die Distanzen sind die gleichen, die Blicke vom Ölberg. „Wenn man das kennt, geht man mit einem anderen Gefühl ins Spiel“, so Mayet.

Grabeskirche (Foto: Monika Frank)

Am See Genezareth (Foto: Ursula Huber)

Felsendom am Tempelberg (Foto: Monika Frank)

Ölberg (Foto: Monika Frank)

Ein bisschen „wie Religionsunterricht zum Anfassen“ beschreibt auch Eva-Maria Reiser, die die Maria spielen wird, ihre Eindrücke. „Wenn man vor Ort ist, bekommt all das eine neue Anschaulichkeit. Wir sind drei Stunden durch das Taubental zum See Genezareth gewandert. Wenn man sich vorstellt, dass auch Jesus da gegangen ist, gibt einem das ein anderes Gefühl von Verständnis. Man fragt sich automatisch: Wie kann das damals gewesen sein?“ Die langen Gespräche im Ensemble und die gemeinsamen Erlebnisse haben ganz nebenbei die Gruppe enger zusammengebracht. Ein bisschen wie eine Klassenfahrt, nur dass der Altersunterschied zwischen dem jüngsten Teilnehmer (16 Jahre) und den Ältesten (78 Jahre) über 60 Jahre betrug. „Das ist auch schön, dass hier durch die Passion so unterschiedliche Generationen zusammenkommen und man sich Menschen nähert, mit denen man im Alltag wenig zu tun hat“, beschreibt Reiser. Denn natürlich war auch Zeit für private Erkundungen und ein obligatorisches Bad im Toten Meer. „Für die, die das noch nicht erlebt haben, ist das natürlich ein Muss“, so Mayet. „Und es ist einfach beeindruckend, wenn man versucht zu schwimmen und die Beine kaum unter Wasser kriegt.“

Wanderung durch das Taubental (Foto: Ursula Huber)

Treffen mit Abba Naor (Foto: Frederik Mayet)

Neben der Erkundung der Landschaft gab es aber auch einige Begegnungen, die die Reisenden nachhaltig beeindruckt haben. Vor allem das Gespräch mit dem Holocaust-Überlebenden Abba Naor hat einen tiefen Eindruck hinterlassen. „Auf die Frage, ob die Verantwortlichen heute zur Rechenschaft gezogen werden sollten, fragte er: Warum? Die sind über 90 Jahre alt, sie sind vielleicht gute Großväter und Urgroßväter geworden. Er braucht keine Vergeltung“, so Reiser. „In seinem Leben hat es sicher andere Momente gegeben, aber dass er an diesen Punkt gekommen ist, finde ich sehr beeindruckend.“ Naor lebt im Grunde die von Jesus gepredigte Feindesliebe: „Ich habe ihn gefragt, ob er noch Hass verspüre“, erzählt Mayet. „Das hat er verneint. Er will den Hass durchbrechen, ihn nicht an seine Kinder weitergeben. Man hat nur ein Leben, hat er gesagt, und das Leben ist eine feine Sache, also nutzt es.“

Text: Anne Fritsch

Fotos: Ursula Huber, Monika Frank und Frederik Mayet

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