09.12.2019

Tugend allein ist nicht genug

DAS SPIELRECHT ZWISCHEN AUSGRENZUNG, EMANZIPATION UND INTEGRATION

Die Geschichte der Passionsspiele Oberammergau ist auch eine der bewussten Ausgrenzung. Das Mitspielen-Dürfen war und ist ein Gradmesser der Zugehörigkeit zur Gemeinde: Wer das Spielrecht hat, ist angekommen im Ort. Im 19. Jahrhundert war das im Grunde kein Problem, von der gut 1000 Menschen zählenden Dorfgemeinschaft spielten 600 bis 700 mit, „also alle, die konnten und wollten“, erzählt Spielleiter Christian Stückl. Dass alle katholisch waren, war im Grunde eh selbstverständlich. Dass ein besonderes Augenmerk auf der Darstellerin der Maria lag, auch. Die war meist jung und unverheiratet. Allerdings zitiert Stückl aus dem Stegreif einen Text über die Besetzung 1880, der andeutet, dass Jungfräulichkeit allein nicht das Kriterium war: „Ganz besonders schwierig ist die Wahl der Frauenspersonen, sie sollten hübsch, ledig und womöglich talentiert sein. Dieses Mal ist es gelungen, eine hübsche talentierte Schauspielerin zu finden. Das Passionsspielkomitee wählte eine Maria, die der lebendige Beweis dafür ist, dass Tugend allein in der Kunst wenig vermag.“

Nach den Spielen 1900 wuchs das Dorf mit der Industrialisierung sprunghaft. Es wurde eine Fünf-Jahres-Regelung eingeführt, um die Bindung der Spiele an den Ort zu bewahren: Nur wer so lange in Oberammergau lebte, durfte mitspielen. 1922 wurde dann das Alter der mitspielenden Frauen auf 35 Jahre begrenzt, weil es nach dem Ersten Weltkrieg viel mehr Frauen als Männer gab. Die Ausgrenzung der Frauen hielt sich über Jahrzehnte, auch als es schon lange keinen „Frauen-Überhang“ mehr gab. Noch in den 70er-Jahren war der Gemeinderat rein männlich, genau wie das eigens gewählte Passionsspielkomitee, das über Spielrecht, Besetzung, Textfassung und alle wichtigen Fragen rund um die Passion entschied. „Diese Wahl war alleine den mitwirkungsberechtigten Männern vorbehalten“, erzählt Monika Lang. „Frauen durften weder wählen noch gewählt werden.“

Anastasia Krach als Maria 1880 (Foto: Gemeinde Oberammergau)

Rosner Probe 1977 (Foto: Gemeinde Oberammergau)

1977 wurde in der so genannten Rosner-Probe zwischen den eigentlichen Spielen eine ältere, allegorische Textfassung erprobt. Monika Lang spielte die Sünde, eine Schlange. Der SPD-Vorsitzenden Xaver Seemüller, der den Luzifer spielte, fragte sie in der Garderobe der allegorischen Figuren, warum sie sich das gefallen lasse, dass sie nicht mal das Komitee wählen darf. Im Folgejahr reichten Lang und Seemüller gemeinsam Popularklage vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof ein: für ein Frauen-Wahlrecht bei der Komiteewahl. Sie wurden abgeschmettert mit der Begründung, es fehle an einer existenten Rechtsnorm, außerdem sei das Passionsspiel „ureigenste Oberammergauer Tradition“.

1984 zum Jubiläumsspiel wurden dennoch alle mitwirkungsberechtigten Frauen, also alle Unverheirateten unter 35 Jahren, wahlberechtigt. Ein paar kandidierten sogar, wurden aber nicht gewählt. „Das war natürlich Wasser auf die Mühlen unserer Gegner“, so Lang. Trotzdem waren alle sicher, dass sich die Frauenfrage bis zu den nächsten Spielen ohnehin erledigt hätte. Dem war nicht so: 1988 kam der Beschluss für die Passion 1990 – und alles war wie gehabt. Zwar hatte Christian Stückl, der neue Spielleiter, eine Klausel im Spielrecht gefunden, die hieß: „Frauen können herangezogen werden, wenn es die Qualität des Spiels hebt.“ Dieser Passus war bis dato nur für Sängerinnen und Musikerinnen angewendet worden, nicht für Schauspielerinnen. Stückl aber wollte Elisabeth Petri als Maria, eine verheiratete Mutter von zwei Söhnen. „Weil jeder im Dorf wusste, dass sie eine extrem gute Schauspielerin ist, stimmte der Gemeinderat der Ausnahmeregelung zu“, so Stückl. „Und so hat 1990 bewusst das erste Mal eine verheiratete Frau die Maria gespielt.“ Für alle anderen galt nach wie vor: nur unverheiratete Frauen unter 35. Gemeinsam mit Hella Wolf-Lang und Anneliese Zunterer-Norz klagte Lang also erneut.

Es ging von einer Instanz zur nächsten bis zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Der Anwalt der Gemeinde argumentierte, dass es auf den Straßen Jerusalems auch keine Frauen gegeben habe. Für sie galt „als Grenze die Schwelle des Hauses, die sie ohne Gefährdung ihres Rufs nur ausnahmsweise überschreiten konnten“. Auch sei die Bühne ohnehin „überbevölkert“, zusätzliche Frauen würden die Sicht auf die Kreuzigung behindern. Mit einem Livius-Zitat brachte er seine Sicht dann auf den Punkt: „Jetzt wird unsere Entscheidungsfreiheit, um die es auch zu Hause durch die Herrschsucht der Frauen geschehen ist, auch hier auf dem Forum zermalmt und mit Füßen getreten.“ Die Emanzipation der Frau: eine Horrorvision im Alten Rom – und in Oberammergau 1990. Frauenfeindliche Aussagen der Vergangenheit wurden als Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung im Hier und Jetzt herangezogen und als „maßgebliche historische und religiöse Vorgaben“ gelesen.

Elisabeth Petre (Maria) mit Stefan Reindl (Jesus) 1990 (Foto: Gemeinde Oberammergau)

Die Klägerinnen Monika Lang, Hella Wolf-Lang und Anneliese Zunterer-Norz mit UnterstützerInnen und Spielleiter Christian Stückl vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München (Foto: Gemeinde Oberammergau)

Am 22. Februar 1990 wurde das Urteil verkündet: Der Ausschluss der Frauen von der Wahl des Passionsspielkomitees und der Spiele sei rechtswidrig. 1000 Oberammergauer Frauen, die jetzt mitwirkungsberechtigt geworden waren, wurden angeschrieben. Stückl, der damals zum ersten Mal Spielleiter war, ließ um die 400 Kostüme nachnähen und integrierte die zusätzlichen Frauen in eine Volksszene. „Es war natürlich ein Spießrutenlauf“, so Lang. „Es war total eng in den Garderoben, und viele waren uns alles andere als wohlgesonnen, auch Frauen.“

Nach diesem Urteil für die Gleichberechtigung konnte natürlich auch niemand mehr aufgrund seiner Konfession ausgeschlossen werden. Dass 1990 erstmals ein Protestant den Prolog sprach, verursachte einen weiteren Aufschrei in der Gemeinde. Inzwischen ist das Murren leiser geworden, Katholiken, Evangelen, Muslime und Konfessionslose spielen zusammen. „Was die katholische Kirche besonders ärgert“, grinst Stückl. „Bis dato war das eine sichere Bank: In Oberammergau tritt niemand aus der Kirche aus, weil er dann nicht mehr mitspielen darf.“ Die Öffnung der Spiele ist bis heute nicht jedermanns und jederfraus Sache, auch wenn sie der Qualität dient. Denn die zählt für den Theatermann Stückl mehr als die biographischen Hintergründe seiner Spieler und Spielerinnen.

So ist das einzig verbleibende Kriterium die sogenannte „20-Jahres-Regel“: Nur wer 20 Jahre im Dorf wohnt – mit Ausnahme der Kinder –, hat ein Spielrecht. 1960 wurde die bis dahin geltende Zehn-Jahres-Regel auf 20 Jahre angehoben, „um die Flüchtlinge aus den Ostgebieten auszugrenzen“, erzählt Stückl. Er findet das eine „extrem lange Zeit“: „Seit drei Jahren wohnt bei meinen Eltern ein junger Flüchtling, der darf nicht mitspielen. Man kann Integration nicht an der Zeit festmachen, die man hier ist“, denkt Stückl. „Da kommt man als Junger her und darf als Alter mitspielen.“ Wer das Spielrecht aber schließlich hat und will, den muss der Spielleiter auf der Bühne unterbringen: Recht ist Recht. „Und es wollen viele. Es werden immer mehr.“ Über 2000 sind es 2020.

Text: Anne Fritsch
Fotos: Gemeindearchiv Oberammergau

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