07.08.2020

Kein ganz normales Dorf

IN OBERAMMERGAU AUFZUWACHSEN, HEISST MIT THEATER AUFZUWACHSEN. EINIGE MACHEN SPÄTER DIE KUNST ZUR PROFESSION.

Vielleicht wäre Oberammergau heute ein ganz normales Dorf im bayerischen Voralpenland. Doch im 17. Jahrhundert brach hier wie anderswo die Pest aus. Aber anders als anderswo reagierten die Oberammergauer auf die Katastrophe, indem sie Theater spielten. In einem Gelübde versprachen sie, alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen, um das Unheil abzuwenden. Es funktionierte. 1634 führten sie zum ersten Mal ihre Passionsspiele auf. Sie tun es bis heute. Und über die Jahrhunderte wurde Oberammergau zu einem Ort des Theaters. Das Spiel prägt die Biographien. Hier aufzuwachsen, heißt: mit Theater aufzuwachsen. Ungefähr die Hälfte der Dorfbewohner*innen sind alle zehn Jahre aktiv an den Passionsspielen beteiligt. Sie spielen mit oder arbeiten hinter der Bühne. Einige von ihnen haben das Theater zu ihrer Profession gemacht: Thomas Dashuber als (Theater-)Fotograf, Ursula Burkhart als Schauspielerin und Gabriel Raab als Schauspieler, Markus Zwink als Komponist und Musikalischer Leiter, Stefan Hageneier als Bühnen- und Kostümbildner, Abdullah Kenan Karaca als Regisseur und Christian Stückl als Regisseur und Intendant des Münchner Volkstheaters.

„Oberammergau ist sehr theateraffin, da wird man zwangsläufig mit Theater konfrontiert“, erzählt auch Lorenz Stöger, der an der Weißensee Kunsthochschule Berlin Bühnenbild studiert. Unter anderem bei Stefan Hageneier. 2000 hat Stöger als Kind bei der Passion mitgespielt, fand es großartig, im Theater zu sein, während die anderen Schule hatten. 2010 war er wieder dabei, direkt nach dem Abi. „So entspannt wird’s wahrscheinlich erst wieder im Rentenalter, wenn ich mit 90 meine letzte Passion mache oder so“, sagt er und grinst. Damals war er ein Kaiphasdiener und ein „Engerl“, teilte sich die Garderobe mit dem Hohen Rat. Er fand es schön, wie sich hier alles vermischt, wie die ganz Jungen und die Dorfältesten gemeinsam etwas auf die Beine stellen. Er war damals noch unentschieden, was er machen sollte. „Schauspieler kam nicht in Frage, weil ich immer rot wie eine Tomate werde, wenn ich auf der Bühne stehe“, sagt er. „Ich konnte ganz gut malen, drum habe ich mir überlegt, Malerei oder Bühnenbild zu machen. Aber als Maler ist man halt nur mit sich selbst beschäftigt. Im Theater entwickelt man gemeinsam mit anderen Leuten etwas, drum habe ich mich fürs Bühnenbild entschieden.“

Lorenz Stöger (Mitte) mit Stefan Hageneier und Christian Stückl (Foto: Andreas Stückl)

Er hospitierte bei der „Dreigroschenoper“ im Münchner Volkstheater bei Stefan Hageneier, dann mehrmals bei den Zwischenspielen in Oberammergau. Wenig später fing er an zu studieren. Für die Passion 2020 unterbrach er sein Studium, assistierte Stefan Hageneier eineinhalb Jahre lang. „Wenn man in Berlin Freunden erzählt, was wir da machen in Oberammergau, klingt das einfach total seltsam: alle zehn Jahre die Geschichte von Jesus aufführen und das seit 400 Jahren und alle machen mit…“, schmunzelt Stöger. „Aber man wird da einfach reingeboren.“ Die Passion, dieses merkwürdige Ereignis, hat seine Lust am Theater geweckt. Stöger mag es, weil „man da Sachen machen kann, die man im normalen Leben nicht machen kann“. Als die Passion abgesagt wurde, ließ eine neue Beschäftigung nicht lange auf sich warten: Stöger assistierte bei Christian Stückls Inszenierung von Taboris „Goldberg-Variationen“ im Münchner Volkstheater. Nun arbeitet er an seiner Diplomarbeit, entwickelt einen virtuellen Raum zum Thema Tod, „eine Art erlebbares Himmelreich“.

Cengiz Görür (Foto: Gabriela Neeb)

Stöger ist nicht der einzige Nachwuchs-Profi aus Oberammergau. Der 20-jährige Cengiz Görür sollte in der Passion 2020 den Judas spielen – und ging so als erster Muslime, der eine Hauptrolle spielt, schon in die Annalen der Spiele ein. 2010 war er als Kind im Volk dabei, was ein tolles Erlebnis war, aber auch eine Selbstverständlichkeit: „Dass man da mitmacht, ist ganz normal. Man wächst da richtig rein und ist immer eingebunden als Oberammergauer.“

Damals fühlte es sich noch nicht so an, als wäre die Schauspielerei seine Sache. Christian Stückl aber, der im Ort permanent Augen und Ohren für neue Talente offenhält, wollte ihn mal auf der Bühne sehen und lud ihn zum Vorsprechen ein. Ihm gefiel seine Stimme, seine Präsenz. 2016 spielte Görür also in „Kaiser und Galiläer“ mit, 2018 in „Wilhelm Tell“ und 2019 in „Die Pest“. Als die Besetzung für die Passion 2020 verkündet wurde, war das eine „Riesenüberraschung“, erinnert Görür sich: „Niemand hat bei der Verkündung der Darsteller damit gerechnet, meine Familie nicht, meine Freunde nicht und ich schon gleich gar nicht.“

Görür war glücklich, ging von der Fachoberschule ab, um die nötige Zeit für die Rolle zu haben. Dann kam Corona. „Ich hatte irgendwie gar nichts mehr“, sagt er. Es war Stückl, der sich mit ihm zusammensetzte: „Bua, was machst denn jetzt?“ Gemeinsam überlegten sie, Stückl fragte, ob er nicht an einer Schauspielschule vorsprechen wolle. Sehr kurzfristig bewarb Görür sich also an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule, studierte drei Vorsprechrollen ein: den Marquis von Posa aus „Don Karlos“, den Benedikt aus „Viel Lärm um Nichts“ und den Wurm aus „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ von Werner Schwab. Es war seine erste und einzige Bewerbung. Er kam Runde um Runde weiter, war schließlich in der Endrunde. „Als dann der Anruf von einer unbekannten Nummer kam und es hieß: „Geschafft!“, war ich wirklich in Tränen aufgelöst“, erinnert er sich und strahlt. „Das war alles sehr spontan, aber währenddessen habe ich gemerkt, wie sehr ich das will. Das musste einfach klappen.“

Eine weitere Rolle hatte er aber schon vorher bekommen. Stückl hatte ihn für seine „Goldberg-Variationen“ am Volkstheater angefragt. „Er hat gemeint, ich solle kommen, egal, ob ich die Prüfung geschafft habe oder nicht. Aber so fühlt es sich natürlich viel besser an!“. Görür strahlt. Mit einem professionellen Ensemble zu proben, war eine Herausforderung für ihn. Doch er spielte sich frei, zeigte sich souverän in den verschiedensten Rollen von der Schlange im Paradies bis zum „zarten Satansbraten“ Isaak – und überzeugte mit seiner Präsenz neben seinen erfahrenen Kolleg*innen. Wenn die Passion 2022 aufgeführt wird, ist er schon ein halber Profi. Er hofft, dass sich die große Rolle mit der Schule in Einklang bringen lässt, ist aber zuversichtlich. „Das wird schon irgendwie klappen, dass ich die Passion spielen darf.“

Über mangelnden Nachwuchs jedenfalls muss man sich in Oberammergau keine Sorgen machen. Es scheint Teil der Tradition geworden zu sein, dass die Profis die Augen offen halten nach neuen Talenten und diese auch fördern. Und dass ein Student wie Stöger ganz selbstverständlich davon spricht, noch mit 90 bei der Passion mitzuspielen, zeigt, wie tief der Ort bis heute in seiner Theatertradition verwurzelt ist. Diese Passion, sie strukturiert und prägt die Leben der Einheimischen. Nein: Oberammergau ist kein ganz normaler Ort im bayerischen Voralpenland. Oberammergau ist Theaterort durch und durch.

Cengiz Görür als Schlange in "Die Goldberg-Variationen" (Foto: Arno Declair)

Text: Anne Fritsch
Fotos: Andreas Stückl, Gabriela Neeb, Arno Declair

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