08.02.2021

Haarige Zeiten - Der Haar- und Barterlass am Aschermittwoch

AM ASCHERMITTWOCH STARTET OBERAMMERGAU MIT DEM HAAR- UND BARTERLASS IN DIE PASSIONS-SAISON. ÜBER WACHSENDE HAARE, BÄRTE IN ZEITEN VON FFP2-MASKEN, MÄNNER MIT PFERDESCHWÄNZEN UND DIE EWIG LÄSTIGE ÜBERGANGSLÄNGE.

Spielleiter Christian Stückl und der damalige Bürgermeister Arno Nunn bringen den Aufruf zum Haar- und Barterlass für die Passionsspiele 2020 an (Foto: Andreas Stückl)

Während ganz Deutschland darauf hofft, irgendwann in absehbarer Zeit wieder zum Friseur gehen zu können und die lange Corona-Mähne loszuwerden, fangen die haarigen Zeiten in Oberammergau Mitte Februar erst richtig an. Ab Aschermittwoch gilt für alle Mitwirkenden der Passionsspiele 2022 der sogenannte „Haar- und Barterlass“: Sie werden per Aushang vom Spielleiter und der Gemeinde aufgefordert, sich „die Haare, die Männer auch die Bärte, wachsen zu lassen“. Ausgenommen sind nur die Darsteller der Römer. Die dürfen die Haare kurz tragen und sich rasieren. Das Volk auf der Bühne aber soll einen möglichst homogenen historischen und langhaarigen Eindruck machen. Und wenn dann bei den Aufführungen all die bärtigen alten und jungen Herren im Kostüm auf der Bühne stehen, sieht das einfach toll aus. Der Einsatz von Perücken oder falschen Bärten ist aufgrund der Masse der Beteiligten unmöglich. Auch ist der Erlass im Ort eine Art Startschuss für die Passion: Ab diesem Tag wird aus den Dorfbewohnern das Passionsspiel-Ensemble, das Näherrücken der Premiere wird in ihren Gesichtern sichtbar. „Normal verwandelt man sich ja in der Maske in ein zwei Stunden in die Figur, die man spielt“, erzählt Andreas Richter, der den Kaiphas darstellen wird. „Hier aber wird man über die Monate allmählich zu dem, den man spielt. Man schaut jeden Tag in den Spiegel, sieht die Veränderung und wächst in die Rolle rein.“

„Der Haar- und Barterlass ist eine sehr alte Tradition“, so Spielleiter Christian Stückl. „Während früher nur Männer dazu aufgerufen wurden, sich Haare wachsen und Bärte stehen zu lassen – Frauen trugen ihre Haare sowieso lang –, gilt der Erlass heute für beide Geschlechter gleichermaßen.“ Wann genau diese Tradition begann, lässt sich nicht feststellen. Aus dem Jahr 1950 ist ein Plakat mit dem Erlass erhalten, doch schon auf Fotos der Passionsspiele von 1870/71 tragen die Mitwirkenden lange Haare und Bärte. Auch wird erzählt, dass Josef Mayr, der Christus-Darsteller von 1870, sich während seines Militärdienstes in der Kaserne wegen seiner langen Haare und des Barts vor dem Kommandanten verstecken musste. Diese Zeiten sind vorbei, selbst die Polizei nimmt es nicht mehr so genau mit der Haartracht ihrer Beamten, erzählt der neue Oberammergauer Bürgermeister Andreas Rödl, der im Chor singt. Als er 2004 bei der Polizei anfing, wurde noch genau darauf geachtet, dass die Frisur passt, erinnert er sich: Da durften die Haare nicht auf dem Hemdkragen aufstehen. 2010 spielte er einen Römer, da hatte er kein Problem. 2019 bekam er eine Ausnahmegenehmigung vom Innenministerium: Die persönliche Freiheit wog mehr als der einheitliche Look. Als Bürgermeister braucht er nun selbstverständlich keine Genehmigung mehr.

Josef Mayr, Jesus-Darsteller von 1870/71 (Foto: Gemeindearchiv Oberammergau)

Gregor Lechner, Judas-Darsteller von 1870/71 (Foto: Gemeindearchiv Oberammergau)

Johann Lang, Kaiphas-Darsteller von 1870/71 (Foto: Gemeindearchiv Oberammergau)

Gregor Stadler, Annas-Darsteller von 1870/71 (Foto: Gemeindearchiv Oberammergau)

Wer in Oberammergau aufwächst, beschäftigt sich zwangsläufig intensiver mit Kopf- und Barthaaren als der Rest der Welt. Vor allem den Buben fordern die Haar- und Barterlässe durchaus ein gesundes Selbstbewusstsein ab. Florian Maderspacher, der den Josaphat spielt, erinnert sich mit gemischten Gefühlen an 2010: Damals war er als 15-Jähriger im Volk dabei. „In Oberammergau waren die langen Haare ja bei Jungs normal, und auch in Ettal, wo ich in der Schule war, wussten alle Bescheid“, erinnert er sich. „Im Schwimmbad aber haben dann welche von außerhalb gemeint: Schaut euch mal die Mädchen an. Da haben wir zum ersten Mal gemerkt, dass man auch nach außen dahinter stehen muss.“ Irgendwann zwischen 10 und 20 Jahren erwischt es jeden in einem schwierigen Alter, meint auch Andreas Richter: „Da ist man irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein. Und dann hat man plötzlich lange Haare und ein paar Haare im Gesicht. Wächst da überhaupt was? Wieviel wächst da? Will man eigentlich, dass da schon was wächst? Das ist wirklich eine Herausforderung, durch die alle Oberammergauer in ihrer Jugend durchgegangen sind.“ Jeder hier erinnert sich an unangenehme Szenen, in denen er für ein Mädchen gehalten wurde. Auch Anton Preisinger Junior, der Johannes-Darsteller, fand es 2010 nicht einfach im Gymnasium in Garmisch. Fünf Jungs aus Oberammergau waren sie damals in der Klasse. Zuerst kamen Fragen von den Lehrern. „Und als wir dann im Oktober, als die Passion vorbei war, auf einmal alle mit kurzen Haaren da saßen, hat uns keiner mehr erkannt“, erzählt er lachend.

In einem Punkt sind sich alle einig: Blöd ist die Übergangsphase, wenn die Haare nicht mehr kurz, aber auch noch nicht lang sind. Wo man einfach aussieht, als würde man sich gehen lassen. (Auch wenn das in Corona- und Lockdown-Zeiten ein durchaus über Oberammergau hinaus verbreiteter Look ist.) „Die Proben fangen ja erst nach der wirklich schlimmen Zeit an, da sind die Haare schon einigermaßen lang“, so Andreas Richter. „Vorher sieht man sich aber im Ort und denkt: Der schaut aber schlecht aus, ist der krank? Dann kommt’s einem: Nein, der lässt sich einfach grad zuwachsen.“

Kaiphas-Darsteller Andreas Richter bei der Spielerwahl 2018...

... und im Herbst 2019 (Fotos: Gabriela Neeb)

Johannes-Darsteller Anton Preisinger jr. bei der Spielerwahl 2018...

... und im Herbst 2019 (Fotos: Gabriela Neeb)

Josaphat-Darsteller Florian Maderspacher bei der Spielerwahl 2018...

... und im Herbst 2019 (Fotos: Gabriela Neeb)

Im vergangenen Jahr mussten die Passionsspiele aufgrund der Corona-Pandemie verschoben werden. Gerade, als die Haare einigermaßen saßen. Die Reaktionen waren verschieden. Richter hat immer einen Bart und trägt die Haare lang, weil er „Angst vorm Friseur“ hat. Auch Rödl und Preisinger ließen die Haare weiter wachsen, um nicht erneut durch die Übergangsphase zu müssen. „Am Anfang habe ich es nicht übers Herz gebracht, direkt zum Friseur zu rennen“, so Preisinger. „Und wenn man einen Dutt macht, ist das ja auch relativ modisch. Das war mir dann lieber als ein halbes Jahr später wieder mit einer mittellangen Frisur rumzurennen. Das haben auch einige aus meinem Freundeskreis so gehalten. Da war kaum einer dabei, der wieder komplett kurz abgeschnitten hat.“ Maderspacher dagegen hatte seinen Rasierer dabei, als die Hauptdarsteller sich am Tag der Absage im März 2020 auf der Mittelbühne versammelten: „Die Stimmung war sehr schlecht, die meisten haben geweint“, erinnert er sich. „Das war dann ein Versuch der Erheiterung, ich habe mich direkt im Theater rasiert.“

Nun hat das Rasieren, kurz vor dem Haar- und Barterlass, nochmal eine ganz neue Dimension bekommen: Die Frage, ob die neu verordneten FFP2-Masken durch einen Bart ihre Schutzwirkung einbüßen, ist noch nicht final geklärt, erhitzt aber die Gemüter. Der diesjährige Haar- und Barterlass ist deshalb weniger streng: Die Haare müssen wachsen, die Bärte dürfen vorerst noch rasiert werden. Hier genügt es für die Optik, wenn das Gesichtshaar ein halbes Jahr bis zur Premiere wachsen darf. Andreas Richter, der einzige überzeugte Vollbart-Träger unter den vieren, arbeitet als Psychologe unter anderem in der Schmerztherapie mit rheumakranken Kindern. Selbstverständlich mit Maske. Die Diskussion um deren Dichtheit hat ihn „kalt erwischt“. Von seinem Bart ist er überzeugt, vom Schutz seiner Umwelt aber auch: „Wenn rauskommt, dass die Maske nicht funktioniert mit Bart, werde ich die Konsequenz ziehen und mich rasieren. Das wächst ja alles schnell wieder zu, das ist ja kein Thema.“

Richter mag diese Zeit, in der sich alle äußerlich, aber auch innerlich verändern.„Es ist lustig, wie man sich in der Gruppe der Männer während der Proben auf einmal über Haar- und Bartfragen unterhält“, lacht er. „Da sieht man auf einmal Herren mit seltsamen Bändern und Reifen im Haar, jeder versucht, einen individuellen Look zu finden, obwohl er im Grunde aussieht wie alle anderen.“ Abgeschnitten werden dürfen die Kopf- und Gesichtshaare erst nach der letzten Vorstellung, manche rasieren sich noch auf der anschließenden Abschlussfeier. 2022 wird es die Möglichkeit geben, die so lange gewachsenen Haare zu spenden, damit aus ihnen Perücken für leukämiekranke Kinder hergestellt werden können. Bei 2000 Beteiligten dürfte da einiges an Material zusammenkommen.

Text: Anne Fritsch
Fotos: Andreas Stückl, Gemeindearchiv Oberammergau, Gabriela Neeb

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