22.08.2022

Erwachsenenfreie Zone

DIE KINDER IN OBERAMMERGAU PROBEN UND SPIELEN IHRE EIGENE PASSION. PREMIERE IST IN DER LETZTEN WOCHE DER SOMMERFERIEN.

Andere Kinder gehen in den Ferien ins Freibad, fahren in Urlaub oder machen einfach: nichts. Die meisten Kinder in Oberammergau spielen im Passionsjahr den ganzen Sommer über Theater. Als Teil der Kindergruppen stehen sie beim „Einzug in Jerusalem“ auf der Bühne des Passionstheaters, kümmern sich in der Händlerszene um die Schafe und Ziegen oder decken den Tisch fürs Abendmahl. Vom Theater genug haben einige aber auch nach gut der Hälfte der Aufführungen noch nicht genug. Am 1. August haben an die 100 Kinder begonnen, parallel ihre eigenen Spiele zu proben, die „Kinderpassion“. Das Projekt ist erwachsenenfreie Zone, die Mitwirkenden organisieren alles selbst und eigenständig. Wie lange es diese Tradition schon gibt, ist nicht ganz klar. Bilder von Kinderpassionen tauchen aber bereits in Dokumentationen aus den 1950er Jahren auf.

 

Bei der Spielerwahl am 1. August (Foto: Sebastian Schulte)

Spielleiter Ludwig Freier bei der Rollenverkündung (Foto: Sebastian Schulte)

Die Initiative haben diesmal Ludwig Freier und Seppi Flemisch ergriffen. Beide sind elf Jahre alt, gehen in eine Klasse und spielen wie alle anderen auch in der großen Passion mit. Sie haben gemeinsam die Spielleitung übernommen, in der Kindergarderobe rumgefragt, wer Lust hat, mitzumachen und Listen geschrieben. Ihre Brüder Fridolin Freier und Carl Flemisch (9 und 8 Jahre) sind ebenfalls Teil des erweiterten Leitungsteams: Fridolin spielt den Jesus, Carl den Pilatus. Zusammen kümmern sich die beiden um die Requisiten wie Dornenkrone, Abendmahltisch und -stühle.

Spielleiter Seppi Flemisch bei der Rollenverkündung (Foto: Sebastian Schulte)

„Da fragen sie auch mal die Erwachsenen von der letzten Kinderpassion um Hilfe“, erklärt Seppi. Er selbst hat die Rollen verteilt, überlegt, wer gut wäre als Jesus, als Judas oder Maria. Da es natürlich auch bei ihnen viel weniger Rollen für Mädchen gibt als für Jungs, hat er kurzerhand zwei Apostel weiblich besetzt: Leni Schmid spielt den Jakobus Alphäus, Sophia Schmid den Bartholomäus. Ludwig hat derweil den Text der erwachsenen Passion gekürzt: die Musik fällt eh weg, zusätzlich haben sie zum Beispiel noch die „Bethanien“-Szene gestrichen. 67 Seiten hat ihre Spielfassung jetzt, etwas mehr als die Hälfte des „normalen“ Passionstextes.

Die Jüngsten in ihrem Ensemble sind vier, die Ältesten fünfzehn Jahre alt. Wenn man die Rollenlisten anschaut, liest sich das wie bei den Großen: Volk, Römer, Henker, Händler, Schächer, Apostel, Hoher Rat, Priester, Ehebrecherin, Maria, Maria Magdalena und natürlich Jesus. Alle, die es bei den Großen gibt, gibt es auch hier. Geprobt wird „jeden Tag“, wie die beiden Spielleiter betonen. Arg viel Zeit ist schließlich nicht mehr bis zur Premiere in der letzten Ferienwoche. Und sie haben sich ja auch einiges vorgenommen: zwei bis drei Stunden soll ihre Aufführung dauern. Ob sie eine Pause machen wollen, da sind sich die beiden noch nicht ganz einig. Seppi würde eher durchspielen, Ludwig tendiert zur Pause. Die beiden Spielleiter verstehen sich als Team, treten grundsätzlich zusammen auf. An diesem Tag waren sie vor der Probe noch beim Ausmessen für die Kreuze. Denn ja: Gegeißelt und gekreuzigt wird natürlich auch hier, wenn auch ein wenig anders als bei den Erwachsenen. Das Kreuz samt Jesus oder Schächer aufzustellen, das wäre doch etwas gefährlich. „Unten am Kreuz kommt so ein Riegel dran, da können die sich draufstellen“, erklärt Seppi. „Und dann werden sie erst hingenagelt“, so Ludwig. Die Kostüme dürfen sie sich im Schulspeicher aussuchen, wo die Gewänder vergangener Passionsspiele lagern.

Jesus-Darsteller Fridolin Freier bei der ersten Probe (Foto: Sebastian Schulte)

Spielleiter Ludwig Freier bei der Abendmahlprobe (Foto: Sebastian Schulte)

Jesus-Darsteller Fridolin Freier mit den Aposteln (Foto: Sebastian Schulte)

Heute wird das Abendmahl geprobt. Auf dem Parkplatz zwischen Freibad und St. Gregor Kapelle bei der Laber-Bergbahn. Die Apostel kommen mit dem Radl, in kurzen Hosen, Caps und Sneakers. Anders als bei der großen Passion ist es bei diesen Proben warm, nur in der Ferne grollt der Donner. Weil der Apostel Thaddäus heute fehlt, springt spontan Carl ein. Requisiten gibt es noch keine, aber das stört sie nicht. „Zwischen den zwei Radeln ist die Bühne“, erklärt Spielleiter Seppi. „Ihr könnt also nicht einfach von der Seite kommen.“ Selbstverständlich fallen Sätze wie „Da ist die Mittelbühne“ oder „Du musst hinten rum gehen, da steht der Tisch“. Man merkt, dass alle die Abläufe einer Theaterprobe verinnerlicht haben. Sie wissen, worauf man achten muss. Da Seppi auch den Johannes spielt und in der Szene beteiligt ist, übernimmt Ludwig (der übrigens den Nikodemus spielt) heute die Leitung.

Engel-Darstellerin Rosalie Wolf mit Jesus-Darsteller Fridolin Freier (Foto: Sebastian Schulte)

Und schon geht es los, alle sind sofort mitten drin in der Szene. „Warum stehst du so fern und verbirgst dein Gesicht?“, fragt Seppi als Johannes. „Jerusalem, dass du es doch erkenntest“, antwortet Fridolin als Jesus, der abseits der anderen steht. Noch brauchen die meisten ihr Textbuch, aber noch ist ja auch ein wenig Zeit. Wer steht wann auf? Wer bleibt noch sitzen? Und: Wie machen wir den Übergang zum Ölberg ohne Musik? Das sind so die Fragen an diesem Probentag. Die Spieler:innen sind ganz unterschiedlich groß, Mädchen und Jungs, Kinder und Teens. Aber das hier ist ihr gemeinsames Projekt, ihr Sommer im Namen der Passion. Als es anfängt zu regnen, wird die Probe kurzerhand in die Halle nebenan verlegt.

Erwachsene sind hier außen vor. Nur ausgewählte Vertrauenspersonen dürfen und durften ein wenig helfen: der zweite Spielleiter Abdullah Karaca beim Text kürzen, der Regieassistent Kilian Clauß als – ja: – Regieassistent. Und die „Mamas“ dann bei der Vorstellung, wenn es darum geht, Jesus und die Schächer mit Theaterblut zu schminken.

Text: Anne Fritsch

Fotos: Sebastian Schulte

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