06.01.2022

Endlich wieder zusammen

MIT DER LESEPROBE BEGINNT DIE PROBENZEIT FÜR DIE PASSION 2022

Spielleiter Christian Stückl bei der ersten Leseprobe 2019 (Foto: Andreas Stückl)

Im März 2020 mussten die Proben für die Passionsspiele 2020 aufgrund der Corona-Pandemie abgebrochen, die Spiele auf 2022 verschoben werden. Am 6. Januar nun geht es endlich weiter: Zur Leseprobe treffen sich alle Darsteller und Darstellerinnen mit Sprechrollen im Ammergauer Haus, um gemeinsam den Text zu lesen. „Alle, und wenn sie auch nur einen ganz kleinen Satz haben, kommen zusammen“, erklärt Spielleiter Christian Stückl. „Es ist das einzige Mal, dass die Spieler das Stück miteinander hören.“ Anschließend finden Einzel- und Szenenproben mit den Hauptdarstellern in kleinen Gruppen statt, ab Februar soll es dann für die Volksproben auf die Passionstheaterbühne gehen. Alles findet situationsbedingt unter strengen Hygieneauflagen statt: Alle Beteiligten werden vor jeder Probe getestet.

Zwar wurde 2020 schon einiges geprobt, seitdem aber ist viel Zeit vergangen und noch mehr passiert in der Welt. Es wird also eher ein Neuanfang der Proben sein als eine Wiederaufnahme, einiges wird nach der Erfahrung der vergangenen beiden Jahre in einem anderen Licht erscheinen. Christian Stückl hat weiter am Text gearbeitet, wird auch in seiner vierten Passions-Inszenierung neu auf die Figur Jesus blicken. Gemeinsam mit seinen Darstellern will Stückl der Frage nachgehen, was es bedeutet, mit dieser Konsequenz einer Idee zu folgen. Immer wieder stehe Jesus vor der Entscheidung aufzugeben oder weiterzumachen: „Gehe ich diesen Weg weiter ... oder geh’ ich zum Badeurlaub an den See Genezareth?“, formuliert Stückl die Optionen. Es ist der innere Konflikt zwischen dem Auftrag als Messias und ganz menschlichen Gefühlen, den ihn an der Jesus-Figur interessiert.

Wie positioniere ich mich zu gesellschaftlichen Problemen? Wie begegne ich denen, die ausgegrenzt werden? Wieviel Mut habe ich? Wieviel Angst? Das sind Fragen, die jeder und jede selbst für sich beantworten müsse. Darum will Stückl in der Passion 2022 dem Publikum mehr Spielraum für eigene Interpretation geben. Den Prologsprecher, der bisher die Lebenden Bilder moralisch einordnete, hat er gestrichen. Die Bilder zeigen Szenen des Alten Testaments, kommen ohne aktuelle Bezüge aus. Ins Zentrum rücken Christian Stückl und Bühnenbildner Stefan Hageneier diesmal das Thema Flucht, dargestellt am jüdischen Volk. In ihnen finden sich zeitlose Fragen, die in den Bibelgeschichten stecken. Es gehe „um menschliche Situationen, in die wir geraten, und die Frage, wie wir mit ihnen umgehen“, so Stückl. „Oft ist das Alte Testament einfach ein Geschichtsbuch. Die Israeliten waren Sklaven und sind deswegen vierzig Jahre durch die Wüste gelaufen, weil sie nirgends aufgenommen wurden, einen Halt gefunden haben.“ Die Geschichte wird mehr noch als in den Jahrzehnten zuvor auf den Boden geholt. Weg vom Himmlischen, hin zum Menschlichen. Zur Frage letztendlich, wie wir unser Leben leben. „Geht es wirklich um die religiösen Gesetze, die Jesus angeblich gebrochen hat?“, fragt Stückl. „Oder nicht viel mehr um das Ärgernis, dass er sich mit Menschen abgegeben hat, die anscheinend nicht in unsere Gesellschaft passen und deswegen dort keinen Platz haben? Und inwieweit hat sich das bis heute verändert?“

So wird auch der Chor 2022 nicht engelsgleich in anderen Sphären schweben, sondern in der Tracht der Oberammergauer des 17. Jahrhunderts auftreten. Diese gelobten 1633, alle zehn Jahre die Passion Christi aufzuführen, um von der Pest verschont zu werden. Dieses Gelübde wird diesmal am Anfang des Spiels stehen, es stärker im Ort und seiner Geschichte verankern. Auch wenn die Wissenschaft inzwischen die Religion ersetzt, der Weg aus der Pandemie heute nicht in einem Gelübde, sondern der Impfentscheidung jedes einzelnen liegt. Corona verändert den Blick aufs Spiel, die große Geschichte dahinter aber ist seit Jahrhunderten die gleiche. Sie hat Kriege überstanden, Spielverbote und Seuchen – und wird auch Corona überstehen, da ist sich Stefan Hageneier sicher: „Es wird den Tag X, an dem die Pandemie vorbei ist, nicht geben. Aber ich glaube, wenn das Passionsspiel 2022 wieder stattfindet, wird das ein toller Augenblick, dann ist es in sich als Aussage genug.“

Text: Anne Fritsch

Foto: Andreas Stückl

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