07.04.2022

Die Kleinen nach vorn

AM ERSTEN APRILWOCHENENDE WURDE ES WIEDER VOLL IM PASSIONSTHEATER. AUF DEM PLAN STAND DIE ERSTE GROSSE VOLKSPROBE, DIE AUCH FÜR DIE KINDERGRUPPE DIE RÜCKKEHR AUF DIE BÜHNE BEDEUTETE.

Pünktlich zur ersten großen Volksprobe im Passionstheater ist nochmal Winter in Oberammergau. Draußen machen die beiden Kamele am ersten Aprilsamstag einen kleinen Spaziergang durch den Schnee, drinnen versammeln sich die 450 Beteiligten an diesem Nachmittag. 42 Tage sind es noch bis zur Premiere, alle Zeichen im Ort stehen auf Passion. Nach der obligatorischen Sicherheitseinweisung durch den technischen Leiter Carsten Lück geht es direkt in medias res: Auf dem Plan steht der „Einzug in Jerusalem“, die größte Szene des Spiels, bei der alle dabei sind. Alte, Junge, Kinder. Für nicht wenige ist es das erste Wiedersehen mit der Bühne nach zwei Jahren Corona-Zwangspause. Bei einigen sind die Haare noch länger geworden, ansonsten erinnert vieles an den Januar 2020: die Skianzüge und die warmen Mützen, vor allem aber die Spannung und Vorfreude.

Auch Carl und Seppi Flemisch sind dabei. Die beiden sind acht und elf Jahre alt, auch außerhalb der Passionszeit singen sie im Oberammergauer Kinderchor. Vor der Probe hat ihre Mama ihnen Wärmekissen in die Stiefel gepackt. Sie wissen, wie kalt es vom Boden hochzieht, wenn man stundenlang auf der nach oben offenen Bühne steht: „Vor zwei Jahren war es noch kälter als heute bei den Proben“, erinnert sich Carl. Er geht in die Grundschule in Oberammergau, sein Bruder Seppi besucht das Gymnasium in Ettal. „Bei mir spielen fast alle Kinder aus meiner Klasse mit bei der Passion“, erzählt Carl. Und bei Seppi ist das nicht anders: „Wegen der Passion hat man in Ettal alle Oberammergauer in eine Klasse getan, und da spielen bis auf zwei auch alle mit.“

Seppi empfindet es als Ehre, beim Passionsspiel mitzuwirken (Foto: Sebastian Schulte)

Ihren ersten Einsatz hatten die beiden bei den Bildband-Aufnahmen im März. Die Jungs sind Darsteller im Vorspiel, in dem das Gelübde von 1633 nachgestellt wird. Damals gelobten die Oberammergauer, alle zehn Jahre das Leiden Christi aufzuführen, um von der Pest verschont zu werden. „Das Foto kommt dann in das Buch“, erzählt Karl stolz, „da mussten wir ganz ruhig stehen. Der Christian (Stückl) hat gesagt: ,Stell dich da hin’, oder: ,Nein, bisschen weiter vorne’. Das hat dann immer um einen Millimeter oder zwei Zentimeter nicht gepasst, bis es irgendwann doch richtig war.“ Und Seppi fügt hinzu: „Da war’s schon wärmer als heute, aber trotzdem saukalt. Die Kostüme sind eiskalt, das ist nur so ein Hemd wie das lange Unterhemd hier.“

Christian Stückl probt das "Heil Dir" mit den Kindern und dem Volk (Foto: Sebastian Schulte)

Heute zumindest haben sie noch ihre Schneeanzüge über der Ski-Unterwäsche an. Im Theater stürmen die beiden gleich auf die Bühne, werden Teil des großen Ganzen. Und Spielleiter Christian Stückl singt gleich zu Beginn der Probe mit den Kindern das „Heil dir“, mit dem Jesus in Jerusalem empfangen wird. Und dann geht es auch schon mitten in die Szene, Stückl dirigiert alle zurück in die Gassen, damit sie dann heraus auf die Bühne stürmen können. Alle sind in ihrem Element, jede und jeder auf seine Weise. Die Schüchternen gehen an der Hand der Mama, die Mutigen rennen drauflos. „Die Erwachsenen wollen auch alle den Jesus sehen“, erklärt Stückl den Kindern. „Aber ihr seid die Kleinen, ihr drängelt euch vor in die erste Reihe. Ihr seid schließlich auch wegen dem Jesus da!“ Die Palmwedel sind natürlich die Wucht – wenn vermeintlich keiner hinschaut, eignen sie sich auch vortrefflich für kleinere geheime Fechtszenen.

Stückl lenkt die Blicke der Kinder („Da ist er, der Jesus!“) und heizt die Emotionen in der Menge an, als Rochus Rückel in der Rolle des Jesus die Priester kritisiert: „Sie sind hungrig, aber ihr gebt ihnen nicht zu essen! Sie sind durstig, aber ihr gebt ihnen nicht zu trinken! Die Fremden nehmt ihr nicht auf und die Nackten kleidet ihr nicht! Wenn ein Mensch nackt ist und Mangel leidet an täglicher Nahrung und ihr sprecht: Geh hin in Frieden! – gebt ihm aber nicht, was sein Leib nötig hat – was hilft ihm das?“ Stückl ruft der Volksmenge zu: „Hört zu, das ist gut, was er da sagt! Da spricht jemand für euch!“ Er will Reaktionen sehen, keine stumme und stille Masse, ermuntert auch die Kinder zum Aufbrausen und Lachen: „Wenn der Jesus zum Josaphat sagt: ,Ehe du ins Reich Gottes kommst, geht ein Kamel durch ein Nadelöhr’, findet ihr das lustig. Sowas hat noch keiner gesagt!“

Carl, Seppi und die anderen Kinder sind geduldig, auch wenn sie in der folgenden Sprechszene nicht mehr so viel zu tun haben. Sie finden es „cool“ (Carl), bei der Passion mitmachen zu dürfen, „eine Ehre“ (Seppi). Da macht es dann auch nichts, wenn es mal etwas Ausdauer braucht, bis die Erwachsenen den richtigen Ton für ihren Text finden. Sie freuen sich auf die Aufführungen. Nur eines macht den beiden noch ein bisschen Kopfzerbrechen: die Kostüme. Beim Gelübde-Bild tragen sie hohe Schnürstiefel, Hose, Hemd und Weste. „Alles ist mit ganz vielen Knöpfen“, erklärt Seppi. „Das Hemd hat bestimmt 40 Knöpfe, die Weste fünf, die Hose auch fünf – und dann haben wir nur sechs Minuten Zeit, uns umzuziehen für den Einzug in Jerusalem.“ Aber dafür wird sich bestimmt eine Lösung finden. Weil: „Der macht das schon ganz gut, der Christian“, konstatiert Seppi.

 

Text: Anne Fritsch

Fotos: Sebastian Schulte

Carl freut sich auf die Aufführungen (Foto: Sebastian Schulte)

LADE INHALTE