02.09.2022

Auf einmal ist es mucksmäuschenstill

DER HÖHEPUNKT DER SPIELE IST DIE KREUZIGUNG. WIE FÜHLT ES SICH AN, AM KREUZ ZU HÄNGEN? UND WAS SIND DIE HERAUSFORDERUNGEN?

Frederik Mayet als Jesus am Kreuz (Foto: Sebastian Schulte)

Gut 20 Minuten hängt Jesus am Kreuz. Es sind die intensivsten Minuten der Passionsspiele. „Da ist immer eine sehr angespannte Stimmung im Theater“, beschreibt der Jesus-Darsteller Rochus Rückel. „Obwohl jeder weiß, was passieren wird, steht die Spannung so hoch wie sonst nie im Stück.“ Er ist in dieser Szene so konzentriert, dass er gar keine Zeit hat nachzudenken, wie sich das anfühlt. Aber „speziell“ ist es auch nach über der Hälfte der Aufführungen noch, „nackt das eigene Ableben zu spielen“. Groß ist der Handlungsspielraum nicht, da kommt es auf jede Feinheit an. „Da kannst du dich nicht verstecken oder wegdrehen“, so Rückel. „Du bist zu 100 Prozent auf dem Präsentierteller. Wenn man auf der Bühne steht, kann man sich mal umdrehen oder zurück gehen, die Hand vors Gesicht legen… All das kann man am Kreuz nicht, man ist wie in einen Schraubstock eingespannt.“ Und das in der Szene, wo alle Blicke auf dem Jesus haften. Das ist schon ein ziemlicher Druck, gibt er zu.

Das strengste Publikum seien die anderen Mitwirkenden, die älteren Oberammergauer, die schon fünf oder sechs Jesus-Darsteller gesehen haben und vergleichen können. Als hilfreich empfand er es, dass viele seiner Freunde und auch seine Freundin im Chor singen und ebenfalls während der Kreuzigung auf der Bühne sind. Da kam ehrliche und konstruktive Kritik. Wie leise muss das Sterben sein? Wie laut dürfen die „Eloi“-Rufe, die Rufe nach Gott, sein? Spielleiter Christian Stückl hält sich mit Regieanweisungen in dieser Szene bewusst zurück, erzählt Rückel: „Wie man stirbt, das muss jeder irgendwie für sich herausfinden.“ Wenn Jesus seine letzten Worte spricht, sei da eine „unbeschreibliche Ruhe“ im Zuschauerraum, erzählt Frederik Mayet, der zweite Jesus-Darsteller: „Sonst hört man immer ein Hüsteln oder irgendwas, aber dann ist es auf einmal mucksmäuschenstill.“

Dass der gesamte Vorgang sichtbar auf offener Bühne stattfindet, ist eine relativ neue Errungenschaft: Bis 1990 sang der Chor, aus der Ferne waren die Hammerschläge zu hören, während hinter dem Vorhang die Kreuze zur Aufstellung vorbereitet wurden. Erst seit der Passion 2000 erlebt das Publikum alles vom Kreuzweg bis zur Kreuzabnahme mit. 

 Zunächst müssen die Jesus- und Schächer-Darsteller die drei Holzkreuze auf die Bühne tragen. Ein Vorgang, der durchaus kräftezehrend ist. „Gewogen haben wir die Kreuze nicht“, erklärt Benni Mayr, der einen Schächer spielt und als gelernter Schreiner die Kreuze gebaut hat. „Ich schätze, sie wiegen zwischen 80 und 100 kg. Auf jeden Fall hat man was zu tun, wenn man sie über die Bühne schleifen muss.“ Die beinahe sechs Meter hohen Kreuze sind aus Fichtenholzplatten gefertigt und mit Styropor und Bauschaum gefüllt; die Hängepunkte wurden zusätzlich verstärkt, um die notwendige Stabilität zu gewährleisten. Da kommt einiges an Gewicht zusammen. Hinter der Bühne helfen den Verurteilten je drei Leute, ihr Kreuz zu schultern, dann müssen sie es in einem Kraftakt alleine bewegen. „Beim Schleppen des Kreuzes merkt man sofort, in welcher körperlichen Verfassung man gerade ist“, erzählt Rückel. „Das hätte ich nie so krass eingeschätzt, aber teilweise fühlt es sich an, als ob noch wer draufhocken würde. Und an einem anderen Tag denke ich: Heute ist es aber leicht!“

Sind dann alle an Ort und Stelle, geht es an die eigentliche Kreuzigung. In Oberammergau werden die beiden Schächer genau wie Jesus ans Kreuz genagelt. Denn anders als in der bildenden Kunst oft dargestellt, findet sich in der Bibel kein Hinweis darauf, dass Jesus anders behandelt wurde als die beiden Verbrecher. Alle drei werden also rücklings auf ihr Kreuz gelegt, der unter ihrem Schurz verborgene Klettergurt wird an der Sicherung eingehakt. Die Füße können die Darsteller auf einem winzigen Tritt abstellen, die Hände legen sie auf die „Nägel“, die im Holz eingehakt werden und sich unsichtbar unten ums Handgelenk legen.

Die Halterungen sind individuell an die Körpergröße der Darsteller angepasst, um das Hängen einigermaßen bequem zu gestalten. Als Benni Mayr mal krank war, ist einer der Apostel für ihn eingesprungen: Yannik Schaap, der eigentlich den Jakobus Alphäus spielt. Er hat gleich zugesagt, als Spielleiter Christian Stückl ihn vor der Vorstellung fragte, ob er sich heute kreuzigen lassen wolle: „Ich hab mich schon immer gefragt, wie das da oben ist“, sagt er. In der Pause haben sie den Vorgang kurz geprobt. Mit der durchaus schwindeligen Höhe (die Füße befinden sich ungefähr drei Meter über dem Bühnenboden) hatte er als gelernter Dachdecker kein Problem. Das einzige, was es ein wenig schwierig gemacht hat: Der Ersatz-Schächer ist ein Stück kleiner als der echte, die Halterungen passten mehr schlecht als recht. Yannik Schaap musste sich ziemlich strecken, um in die richtige Position zu kommen.

Liegen die Darsteller dann auf den Kreuzen, schlagen die Henker mit den Hämmern auf das Holz. „Das ist ein ganz wichtiger Moment“, erzählt Frederik Mayet. „Wenn man diese Hammerschläge hört und das Kreuz aufgestellt wird, das hat so eine Gewalt. Da bekommt man ein ganz anderes Gefühl für das, was da vorgeht: Das ist ein brutaler Mord.“

Frederik Mayet bei technischen Proben (Foto: Sebastian Schulte)

Proben zur Kreuzaufstellung (Foto: Sebastian Schulte)

 Anschließend ziehen die Henker das liegende Kreuz von vorne mit Seilen in die Senkrechte, von hinten wird geschoben. „Am Anfang war das ein bisschen gruselig“, erinnert sich Rückel. „Inzwischen kennt man den Moment, in dem das Kreuz unten in die Einrastung rutscht, und kann damit umgehen.“ In diesem Moment ruckt es, als falle das Kreuz nach vorne. Das aber kann nicht passieren, versichert Benni Mayr. Im Boden versenkt ist eine Hülse, die man aus dem Loch hochklappen kann und in die das Kreuz vor dem Aufstellen geschoben wird. Ist das Kreuz dann in der Senkrechten, kann die Arretierung festgesteckt werden, damit alles hält. Das Kreuz steht stabil circa 60 cm tief im Boden verankert. Auch Rochus Rückel hat „vollstes Vertrauen“, dass alles sicher ist.

Aufregender beziehungsweise schmerzhafter als das Aufstellen erleben beide, Rückel und Mayr, die Kreuzabnahme. Als Schächer muss Mayr sich in drei Meter Höhe auf die Schultern des Römers „schmeißen“, der vor ihm auf der Leiter steht und ihn dann runterträgt. 

„Das ist eigentlich der Moment, der am meisten Überwindung braucht“, erzählt er. Und auch wenn es bei Jesus, der in einem Tuch vom Kreuz gelassen wird, etwas weniger abenteuerlich zugeht, empfindet Rückel diesen Moment als den herausforderndsten: „Wenn man mit dem ganzen Gewicht in dem Tuch hängt, ist das ziemlich anstrengend, da ist der komplette Körper angespannt. Da hat man auch mal Striemen und blaue Flecken in den Achseln.“ Auf jeden Fall ist er immer froh, wenn er schließlich unten am Boden liegt. Bereit zur Auferstehung.

Text: Anne Fritsch

Fotos: Sebastian Schulte

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