10.02.2020

Auf die Plätze, fertig, los!

IM PASSIONSTHEATER HABEN ENDE JANUAR DIE VOLKSPROBEN BEGONNEN

Auf der Mittelbühne startet die erste Volksprobe für die Passionsspiele 2020 (Foto: Andreas Stückl)

Christian Stückl wird es warm. Wo alle anderen sich in dicke Mäntel, Winterjacken, Skihosen und Mützen hüllen, zieht er seine Jacke aus, stürmt mit einer Lanze in der Hand über die Bühne und zeigt den Römern, wo’s lang geht: aus der Gasse quer über die Bühne. „Vorsicht!“, warnt er. „Die Lanzen sind spitz! Ich will hier keine Verletzten haben, also die Spitzen immer nach oben.“

Das vorletzte Januar-Wochenende in Oberammergau. Es ist kalt. Und es ist voll. Hunderte drängen ins Passionstheater zur ersten Volksprobe. Auf dem Plan stehen die „Empörung“ und der „Kreuzweg“. Alle sind da bei dieser ganz besonderen Dorfversammlung: die Alten, die Jungen, die Snowboarder, die Studenten und die Bergwachtler. Sie alle vereint die Lust, an den Passionsspielen teilzunehmen – und ihre wachsenden Haare und Bärte.

Die Zuschauerreihen sind noch abgedeckt, die Bühne leer. Ein paar Sonnenstrahlen bahnen sich ihren Weg am Schiebedach vorbei. Am Rande liegen die Werkzeuge der Bühnenarbeiter, die vorbereiteten Säulenkapitelle.

Spielleiter Christian Stückl steht auf einem langen Tisch an der Rampe, Blick Richtung Bühne, in der Hand ein Mikro. Alle Beteiligten müssen sich mit ihrer Chipkarte am Eingang registrieren, eine individuelle Anwesenheitskontrolle ist bei dieser Menge unmöglich. Nachdem auch die Fluchtwege und Brandschutzvorschriften geklärt sind, kann es losgehen. Stückl sortiert die Massen: Die Römer schickt er erstmal nach unten, das Volk, das in vier Gruppen unterteilt ist, in verschiedene Bereiche der Bühne. Wer kommt aus welcher Gasse? Wer ruft wann was? Wo eben noch alle chaotisch durcheinander liefen und kaum vorstellbar war, dass all diese Menschen auf die Bühne passen, findet erstaunlich schnell jede*r seinen Platz. „Der Nazarener soll sterben!“, rufen sie im Chor. „Sterben!“ Wenn so viele Menschen im Chor den Tod eines einzelnen fordern, verfehlt das seine Wirkung nicht. Von einem Moment auf den anderen ist das anfängliche Chaos einer konzentrierten und bedrohlichen Stimmung gewichen: Da ist er, der pöbelnde und aufwiegelnde Mob. Die Kreuzigung bahnt sich an. Die Skianzüge und Bommelmützen sind vergessen, die Kälte nicht. Trotzdem fühlt es sich ein wenig an wie Jerusalem.

Dann geht es auf die Vorderbühne (Foto: Andreas Stückl)

So sieht die Probe am Inspizientenpult aus (Foto: Andreas Stückl)

„Das klingt schon ziemlich gut!“, findet auch Stückl und erklärt die Situation: „Während dieser letzten Rufe rumpelt ganz Rom herein! Die, die schwer auf die Füß sind, stellen sich bitte an den Rand. Ich will, dass da wirklich was abgeht!“ Vorsicht steht an erster Stelle, wenn so viele Menschen sich auf engstem Raum bewegen sollen. Auch befindet sich in der Gasse eine Stufe, „die vorher nicht da war“. Vorher, das heißt vor zehn Jahren, bei der letzten Passion. Denn für die meisten ist das Theater ein vertrauter Ort, sie sind nicht zum ersten Mal dabei. Im Gegenteil: Für viele in Oberammergau ist das Mitspielen Ehrensache. Sie fangen an, wenn sie Kinder sind, und spielen mit, solange es eben geht. In diesem Volk gibt es alle Generationen. Kinder, Jugendliche, Eltern und Großeltern. Viele Bärte sind weiß, manch einer ist mit Gehhilfen unterwegs. Alle zehn Jahre folgen sie dem Gelübde von 1633, als die Dorfbewohner versprachen, das Leiden Christi aufzuführen, wenn die Pest sie verschone.

Auch Stückl, der die Spielleitung zum vierten Mal innehat, ist die Erfahrung anzumerken. Von den Massen lässt er sich nicht aus der Ruhe bringen, seine Euphorie wirkt ansteckend. Er rennt hin und her, dirigiert und motiviert die Menge: „Jetzt kommt der Hohe Rat aus der Mitte raus, ihr vermischt euch mit dem Nachbarvolk“, ruft er. „Auf die Plätze, fertig, los!“ Und da ist er, der Tumult auf der Bühne. Größer als in jedem Theater.

Die Probe zieht sich bis in die Abendstunden (Foto: Andreas Stückl)

Die Probe ist ein Event im Dorf. Nicht-Spieler aus dem Ort, Nachbarn und Kinder, aber auch zufällig vorbeikommende Touristen finden den Weg ins offene Passionstheater. Am Ende stehen die beiden Jesus-Darsteller im Zentrum der Bühne, da, wo später einmal das Kreuz aufgestellt wird. Auch wenn es heute noch eine schlichte Holzlatte ist, die die beiden halten. Auch wenn sie nicht hängen, sondern lässig daran lehnen: Eine Ahnung ist schon da, wie das mal sein wird. „Jetzt hängt er gleich!“, ruft Stückl, vermittelt unnachahmlich die Stimmung im Volk, die Aufregung. Und auch den Schmerz.

Text: Anne Fritsch

Fotos: Andreas Stückl

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