21.04.2022

Die DNA der Passion

DAS OBERAMMERGAU MUSEUM WIDMET DER PASSION 2022 EINE GEBÄUDE- UND RAUMINSTALLATION, DIE DIE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN MENSCHEN UND IHRER UMGEBUNG ERGRÜNDET.

Die Fassade des Oberammergau Museums aus den Volksgewändern der Passionsspiele 2000 und 2010 (Foto: Oberammergau Museum)

Das Oberammergauer Museum hat sich blau gewandet. Die eigentliche Fassade verbirgt sich einige Wochen vor der Passionsspiel-Premiere hinter einem neuen Kubus, das Gebäude selbst wird zum Kunstobjekt. „(IM)MATERIELL - Stoff, Körper, Passion“ heißt die Gebäude- und Rauminstallation zur Passion 2022, die auf der Straße beginnt und sich im Inneren fortsetzt. Die Ausstellung beginnt für alle sichtbar mitten im Ort. Die Platten, aus denen sich die Interims-Fassade zusammensetzt, sind verkleidet mit den blauen Kostümen, die das Volk in den Passionen 2000 und 2010 getragen hat. Viele Hände haben sie aufgetrennt und zu einem Mosaik aus Stoff verleimt.

Oberammergau ist ein Ort der Holzschnitzer und der Passionsspiele. Beides hinterlässt hier seit Jahrhunderten Spuren, prägt die Menschen. „Wenn viele Menschen über Jahrhunderte zusammenarbeiten, können Visionen verwirklicht werden“, so Constanze Werner, die das Museum leitet. Die Ausstellung nun ist eine „Hommage an beinahe 400 Jahre Passion und 500 Jahre Holzschnitzerei“, erklärt sie. 

Sie will die Beziehungen zwischen dem Mensch und seiner Umgebung in den Fokus rücken, schauen, was sich materialisiert und was am Ende übrig bleibt. Das gesamte Projekt arbeitet mit Vorhandenem, mit Überbleibseln und Resten. Das Alte wird zu neuem Leben erweckt, um sich existentiellen Erfahrungen wie Geburt, Vergänglichkeit und Tod zu stellen. Letztendlich geht es der Museumsleiterin und ihrem Team aus Künstlern und Künstlerinnen aus Oberammergau und München auch um die Stofflichkeit der Menschen selbst, die Erkenntnis: „Wir sind alle gleich.“

Der Künstler Klaus Vogt hat die langen Haare gesammelt, die sich die Beteiligten nach den Passionen 2000, 2010 und der Verschiebung der Passion 2020 abgeschnitten haben. Aus ihnen hat er eine ein Kilometer lange Schnur gefilzt, die nun als in allen Räumen sichtbarer Leitfaden durch die Ausstellung führt. Passion funktioniert nur im Zusammenspiel von vielen, in der Schnur manifestiert sich die Menschenmenge, der gemeinsame Einsatz für die Spiele. Wenn man so will: ihre DNA.

Anders als andere Museen wurde das Oberammergau Museum 1910 für eine bestehende Schnitzerei-Sammlung gebaut und konzipiert, der Architekt Franz Zell inszenierte die Räume eigens für die Exponate. Nur das zweite Obergeschoss lässt sich flexibel für Wechselausstellungen nutzen. Die über 6000 Holzskulpturen aus vier Jahrhunderten tummeln sich in den Vitrinen und an den Wänden. Dicht an dicht stehen und hängen die Abbildungen des Lebens und Leidens, der Ängste, Sorgen und Hoffnung der Menschen. „Wenn man den religiösen Blick hat, ist das Jesus“, sagt Werner. „Wenn man den weglässt, ist es einfach der Mensch.“ Das Kleinteilige widerspricht heutigen Sehgewohnheiten, überfordert den Blick auch mal. „Im Kunsthaus Bregenz hängt an einer Wand ein Bild, bei uns gibt es auf fünf Metern gefühlt tausend Figürchen.“ Die Ausstellung nun hebt einzelne Exponate hervor, rückt sie in den Fokus. Der „Christus in der Rast“ von ca. 1830 zum Beispiel wurde aus der Vitrine genommen und in einem Acrylkubus an eine ansonsten leere Wand montiert. Von der Decke hängen hölzerne Blutstropfen, die 2014 von Hermann Bigelmayr, Bildhauer und Lehrer an der Oberammergauer Schnitzschule geschaffen wurden: der Leidende findet sich in einem Regen aus Blut wieder, seinem Herzblut. Der kleine Raum wird zu einem Ort der Kontemplation und Ruhe. Die Figur, die zuvor Teil der Masse war, wird zum eigenständigen Kunstwerk. „Wenn ich ein einzelnes Objekt sehe, sehe ich es anders, als wenn ich viele sehe“, meint Constanze Werner.

"Christus in der Rast" mit hölzernen Blutstropfen (Foto: Oberammergau Museum)

Der Weg durch die Ausstellung beginnt in der Krippenabteilung, mit der Geburt und führt durch den Zyklus des Lebens bis zum Tod beziehungsweise (wir sind ja immerhin in Oberammergau) zur Auferstehung. Am Anfang steht eine Irritation: Jesus und Maria mit dem Christuskind wurden aus der Oberammergauer Krippe von 1743 herausgelöst und isoliert im Raum präsentiert. In der Krippe selbst klafft eine Lücke. Fotos an der Wand versetzen die bekannten Figuren nach Sibirien oder Hong Kong. Werner will auch die heile Welt der Krippen hinterfragen, Familienstrukturen und durchaus auch -konflikte sichtbar machen: „Wir können uns nicht aussuchen, in welche Familie, welche Strukturen und welches Land wir geboren werden.“

Chronos (Foto: Oberammergau Museum)

Auch die Räume im ersten Stock wurden umgestaltet, Exponate verhüllt und verfremdet, um Vergänglichkeit und Verbundensein sichtbar zu machen. Lichtspiele und Projektionen setzen neue Akzente und zeigen den Menschen als Teil des Universums. Die Erlösung kommt, wie es sich gehört, ganz am Schluss: im obersten Stockwerk, hinter einer Wand aus blauen Gewändern. Die Wände sind weiß verkleidet mit den Gewändern des Chores von 2010. Darauf projiziert wird ein Mann, der schnitzt, und Drohnen-Aufnahmen der Ammergauer Alpen. Wenn man so will: die Wurzeln und der Weg nach oben. „Unsere Vorstellung von Erlösung ist immer geprägt von dem Ort, an dem wir aufwachsen“, so Werner. Zentrum der Lichtinstallation von Michael Gene Aichner aber ist der deckenhohe Zylinder aus weißen Bootsseilen in der Mitte des Raumes. Sobald man diesen innersten Kreis betritt, wird von außen eine geschnitzte Figur auf die Seile projiziert, die in einem Strudel aus Licht nach oben fliegt. Richtung Himmel, wenn man so will. „Hier lösen wir uns vom Exponat und heben die Schnitzerei auf eine neue Ebene“, so Werner. „Na klar ist das auch ein bisschen plakativ, aber wie will man die Erlösung denn auch darstellen? Nach all den Figuren wollten wir, dass am Ende der eigene Körper, das eigene Ich im Zentrum steht.“

Text: Anne Fritsch

Fotos: Oberammergau Museum

 

(IM)MATERIELL– Stoff, Körper, Passion. Eine Gebäude- und Rauminstallation zur Passion 2022. 23. April bis 16. Oktober 2022

www.oberammergaumuseum.de

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