10.11.2021

Das Gedächtnis der Passion

HERMANN WIEGAND KONTROLLIERT SEIT 1990 BEI JEDER VORSTELLUNG DIE ANWESENHEIT ALLER MITWIKENDEN. ER SIEHT ALLES UND WEISS ALLES, WAS HINTER DER BÜHNE GESCHIEHT – UND DOKUMENTIERT ES IN SEINEN KARIKATUREN.

Da hängt einer am Kreuz und gestikuliert fröhlich. Da steht ein Esel, der so groß ist, dass der Jesus-Darsteller eine Leiter zum Aufsteigen braucht. Und da ist ein Darsteller bei der Anprobe, dessen Haare so lang sind, dass er im Grunde gar kein Kostüm mehr braucht. – Hermann Wiegand hat die Büchlein mit seinen Karikaturen auf seinem Esstisch ausgebreitet. Beim Anschauen der Zeichnungen erinnert er sich an längst vergessene Szenen, lacht immer wieder auf, beim Gedanken an versehentlich in der Garderobe eingesperrte Römer oder Mäuse im Schuh.

Hermann Wiegand ist Oberammergauer, gelernter Fassmaler und Vergolder, lange hat er als Grafiker gearbeitet. Und er ist so etwas wie der offizielle inoffizielle Karikaturist der Passionsspiele. Als Kind und junger Mann hat er bei den Spielen 1950 und 1960 im Volk mitgespielt, dann beschloss er, dass er „sich nicht für die Bühne eignet“. Er wollte lieber einen Job hinter der Bühne. 1970 machte er den Einlass, 1980 und 1984 war er Einsatzleiter beim Roten Kreuz – und seit 1990 ist er der Mann, an dem niemand vorbei kommt: Von der ersten Probe bis zur letzten Vorstellung kontrolliert er die Anwesenheit aller Mitwirkenden. Bei über 2000 Mitwirkenden eine Mammutaufgabe.

Jeder Mitwirkende muss bei ihm unterschreiben, wenn er ins Theater kommt. Diese Unterschriftenlisten sind die Grundlage für die Honorarzahlungen. (2022 wird die Anwesenheit erstmals elektronisch erfasst, Wiegand wird zum Hüter des Lesegeräts.) An jedem Vorstellungstag ist Wiegand der erste, der kommt, und der letzte, der geht. Zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn findet er sich im Theater ein. Am Ende ist er es, der zusperrt. „Ich bin eigentlich die Brücke zum Spielleiter und zur Gemeinde“, sagt er. „Wenn einer ein Wehwehchen hat, kommt er zu mir.“ Er sitzt in seiner Pforte hinter der Bühne und weiß, welcher Hauptdarsteller und welche Hauptdarstellerin an welchem Spieltag dran ist; wer wann seinen Auftritt hat. Wenn einer das Unterschreiben vergisst, telefoniert er ihm noch abends hinterher. Durch seine Glasscheibe und auf seinen Bildschirmen hat er alles im Blick: Wer kommt? Wer geht? Und auch: Schleicht sich jemand heimlich wieder raus, nachdem er sich registriert hat? „Ich kenn ja meine Pappenheimer“, sagt Wiegand und lacht. „Da hat’s schon viel Zirkus geben. Ich bin ein herzensguter Kerl, aber wenn einer meint, er kann mich betrügen, dann hat er sich ‘täuscht.“

Denn da versteht er keinen Spaß. Einmal hat er eine Darstellerin erwischt, die sich nach dem Unterschreiben durch den Hinterausgang wieder rausgeschlichen hat. „Das geht nicht“, sagt er bestimmt. Am nächsten Tag hat er sie sich zur Brust genommen, verwarnt: „Wenn ich dich nochmal erwisch, fliegst du.“ Die allermeisten sind aber äußerst zuverlässig, da hat Wiegand nichts zum Meckern. Auch wenn im Laufe der Saison natürlich die Disziplin etwas nachlässt, der Hang zum Blödsinn größer wird. Bei über 2000 Beteiligten und jeder Menge Tiere geht es hinter der Bühne naturgemäß turbulent zu. Wiegand sieht alles und dokumentiert es. Seinen Block und Stifte hat er immer dabei. Und was er selbst nicht sieht, das erzählen ihm postwendend die, die dabei waren. Ob der Esel sich störrisch zeigt und nicht auf die Bühne will oder ob Jesus sich bei der Kreuzabnahme in all den Tüchern verheddert. Ob Scherzbolde ein Pferd mit in die Garderobe nehmen oder ein Darsteller im Lebenden Bild fehlt. Wiegand entgeht nichts. Die Zeichnungen hängen noch vor Ende der Vorstellung beim Betroffenen in der Garderobe. „Das entspricht alles der Wahrheit, gell?“, betont er. „Ist nix gelogen!“

Wenn Not am Mann ist, verlässt er seinen Posten auch mal, um sich auf die Suche nach fehlenden Spielern zu machen. Einmal hat ihn die Polizei angerufen: „Die Veronika-Darstellerin steckt hinter einem Unfall auf der Olympiastraße im Stau, sie kann nicht pünktlich kommen.“ Also zog Wiegand los, die Zweitbesetzung suchen. Daheim war sie nicht, in ihrem Lieblings-Café auch nicht. Als einer ihm erzählte, dass sie im Zuschauerraum sitzt, ist er „losgeschossen“, hat sie von ihrem Platz geholt. „Da ist die vielleicht gerannt“, erinnert er sich lachend, „unterm Laufen hat sie sich ausgezogen, ich hab das Gwand gefangen und sie ist in die Garderobe gestürmt. Kommt ois vor, bei so vielen Leuten passiert eben viel.“

Wiegands Archiv ist so etwas wie das Gedächtnis des Ortes, ein gezeichnetes Passions-Tagebuch. Die Zeichnungen einer Passion lässt er am Ende der Spielzeit drucken und binden, am letzten Spieltag verkauft er seine „Bücherl“ dann an die Beteiligten. Den Erlös spendet er an die Kinder-Krebshilfe.

Text: Anne Fritsch

Bilder: Hermann Wiegand

LADE INHALTE