01.07.2022

100 Tage mit Jesus

SYLVIA HEINZELLER ARBEITET IN DER GARDEROBE DER JESUS-DARSTELLER

Die Jesus-Garderobe (Foto: Anne Fritsch)

Die Jesus-Garderobe ist die kleinste von allen. Dafür aber auch die einzige Einzelgarderobe. Direkt gegenüber führt eine große Schiebetüre auf die Bühne. Durch sie wird später das Volk samt Esel und Jesus nach Jerusalem einziehen. Eine Stunde vor Spielbeginn tritt Sylvia Heinzeller ihren Dienst an. Sie ist die Garderobenfrau in der Jesus-Garderobe. Früher hat sie selbst mitgespielt, vor allem die Rosner-Probe 1977 hat sie begeistert: „Die bunten Kostüme und die allegorischen Figuren – das war genau meins!“, schwärmt sie. 1980 durfte sie nicht mehr teilnehmen, weil sie verheiratet war und das damalige Spielrecht nur unverheiratete Frauen zuließ. Als dieses dann 1990 gekippt wurde, kam sie zurück zur Passion, allerdings ist sie seit damals hinter der Bühne tätig.

In der Schneiderei (Foto: Anne Fritsch)

Als gelernte Schneiderin ist sie schon in der Vorbereitungszeit mit der Herstellung der Kostüme beschäftigt, während der Saison dann in der Garderobe. Auch da gibt es noch genug zu nähen. Nicht nur das Gewand von Jesus, das ihm bei der Geißelung vom Leib gerissen wird, muss jeden Abend geflickt werden. Bei so vielen Beteiligten geht immer irgendwo eine Naht auf, ist mal ein Kostüm zu lang oder – wie an diesem Tag – kurz vor dem Auftritt der Schal des Moses unauffindbar. Also rennt Sylvia die zwei Treppen zur Schneiderei hoch, sucht aus den Reservestoffen den richtigen aus und näht ihm schnell einen neuen.

Cengiz Görür (Judas) und Frederik Mayet (Jesus) vor ihrem Auftritt (Foto: Anne Fritsch)

Sylvia ist an jedem der über hundert Spieltage im Theater. 2000 war sie bei den Römern in der Garderobe, nun also bei Jesus. „Da wird dir doch langweilig“, haben ihr einige prophezeit. Das kann sie nicht bestätigen: Ihr gefällt es hier sehr gut. Neben der Tür der Jesus-Garderobe hat sie einen detaillierten Ablauf-Plan aufgehängt. Nur für den Fall, dass sie doch einmal ausfallen sollte. Da steht genau mit Uhrzeiten aufgelistet, was wann zu tun ist und wie. Im Kalender darüber haben die beiden Jesus-Darsteller Frederik Mayet und Rochus Rückel notiert, wer in der aktuellen Woche welche Vorstellungen spielt. Diese Absprache treffen die Spieler eigenverantwortlich, sprechen ihre Wünsche untereinander ab: An diesem Tag sind Freunde oder Verwandte von einem da, an jenem hat der andere einen Arbeitstermin und ist verhindert. Da dieses eigenverantwortliche System für alle Hauptrollen gilt, ist die Ensemble-Konstellation an jedem Spieltag eine andere. Auf welche Maria oder welche Magdalena Jesus wann treffen wird, ist auch für ihn eine Überraschung.

Als Frederik Mayet, der an diesem Tag dran ist, um 13.45 Uhr in der Garderobe eintrifft, hat Sylvia schon die beiden Mikros für ihn vorbereitet. Anders als die anderen bekommt er als Hauptrolle gleich zwei Mikroports. Falls eines ausfällt, kann die Tontechnik schnell auf das zweite umschalten. Sylvia befestigt sie an der Wange und am Rücken, dann zieht Mayet sich an. Die beiden sind ein eingespieltes Team, jeder Handgriff sitzt, die Kippa wird im Haar festgesteckt, dann ist erstmal alles fertig. Dass die Sandalen irgendwie nicht richtig passen, ist Mayet egal: Es sind die, die er schon 2010 als Jesus getragen hat. Irgendwie ist er da auch ein bisschen abergläubisch. Also macht Sylvia sich schonmal ihre Gedanken, wie man sie im Falle des Falles flicken könnte. Denn anders als Rochus Rückel hat Mayet keine Ersatzlatschen im Regal.

Bevor dann das Volk mit dem Esel zum „Einzug in Jerusalem“ durch den Gang vor der Garderobe zum Auftritt kommt, schaut noch der Judas-Darsteller Cengiz Görür auf einen Salbeitee vorbei. Die Apostelgarderobe ist direkt nebenan, die gemeinsame Teestunde von Jesus und Judas hat schon Tradition. „Der Cengiz darf immer kommen“, erzählt Sylvia. „Für den habe ich immer eine Tasse Tee!“ Zur Sandalenfrage hat Görür eine klare Haltung: „Barfuß geht gar nicht, nach der Händlerszene liegen ja lauter kleine Scherben auf der Bühne!“

Warten auf den Einzug in Jerusalem (Foto: Anne Fritsch)

Am Ende der Pause beginnt dann der stressige Part für Jesus und seine Garderobenfrau. Jetzt werden alle Utensilien aus dem Schrank geholt, die für die anstehende Kreuzigung nötig sind. (Der Wodka hinten in der Ecke dient übrigens nicht dem Stress-, sondern vielmehr dem Geruchsabbau: Auf die nicht-waschbaren Kostümteile gesprüht, tilgt er unangenehme Gerüche.) Bevor der gewickelte Lendenschurz angelegt wird (was aus Platzgründen gerne mal auf dem Gang geschieht), schminkt Sylvia schon die Striemen der Geißelung auf Mayets Rücken. So können sie eintrocknen und werden nicht gleich wieder durch die Kleidung abgewischt. Doch das ist erst der Anfang: Nach der Geißelung wird es richtig blutig in der Garderobe, Sylvia legt schon mal ein Handtuch auf den Boden. Frederik Mayet hantiert mit der „Blutblase“, um nach unten laufendes Blut auf Brust und Knien anzubringen, während Sylvia großzügig weiteres Blut und Dreck auf seinem gesamten Körper verteilt und alles am Ende mit Heilerde einstaubt. Danach macht Mayet erstmal das Fenster auf, bevor wir alle zu husten anfangen. Während er sich mit seinem Kreuz ein letztes Mal an diesem Abend auf den Weg zur Bühne macht, geht Sylvia noch einmal an die Nähmaschine, näht das gerissene Gewand zusammen. Damit es sich am nächsten Spieltag wieder gut reißen lässt, bleibt die Naht unvollständig.

Nach der Kreuzigung geht es für Jesus in die Dusche. Sylvia weicht noch das Kreuzabnahmetuch in kaltem Wasser ein, bringt Lendenschurz und Grabtuch in die Waschmaschine. Am nächsten Morgen wird sie alles zum Trocknen aufhängen, damit mittags wieder alles für den nächsten Einsatz bereit ist. Und das Spiel von neuem beginnen kann.

 

Text & Fotos: Anne Fritsch

Die Jesus-Kostüme (Foto: Anne Fritsch)

LADE INHALTE