02.10.2020

Zwei Hochzeiten und ein Katastrophenfall

DER EINE WOLLTE DIE PASSIONSSPIELE 2022 ZUM SIEBTEN MAL BESUCHEN, DIE ANDEREN ZUM ERSTEN MAL. BEIDE FÜHRTE IHRE HOCHZEITSREISE 1970 ZUM ERSTEN MAL NACH OBERAMMERGAU.

1970 in Oberammergau: Die Proben für die Passionsspiele müssen wegen der Schneemassen auf der Bühne später beginnen als geplant. Kardinal Döpfner entzieht den Passionsspielen wegen der antisemitischen Tendenz den kirchlichen Sendungsauftrag, die „missio canonica“. Bei der Premiere gießt es aus Strömen, der bayerische Ministerpräsident Franz Joseph Strauß lässt sich erst verspätet zur Kreuzigung blicken. Und im August gibt es auch noch Katastrophenalarm: Die Ammer tritt nach schweren Unwettern über die Ufer, überschwemmt das Passionstheater. „Besonders schlimm sieht es in Oberammergau aus“, schrieb die Süddeutsche Zeitung am 11.8.70. „Die Straßen und Keller sind überflutet; das Passionsspiel musste am Montag abgebrochen werden, weil die Wassermassen auch in das Festspielhaus eindrangen. Die amerikanische Armee hat den eingeschlossenen Touristen in Oberammergau Unterkunft, warme Decken und Verpflegung angeboten.“ Man kann sagen, 1970 war ein turbulentes Jahr.

In eben diesem Jahr heiratete sowohl das Ehepaar Arretz vom Niederrhein als auch das Ehepaar Herrmann aus Baden-Württemberg. Vermutlich heirateten noch einige mehr, doch diese beiden Paare führte es auf ihrer Hochzeitsreise nach Oberammergau. Und beide wollten 50 Jahre später hierher zurückkehren, um die Passionsspiele zu besuchen.

Wolfgang und Dorothea Arretz an ihrer Goldenen Hochzeit (Foto: privat)

Als Wolfgang Arretz erfuhr, dass Passionsspieljahr war, plante er für seine Hochzeitsreise ins Stubaital gleich einen Abstecher nach Oberammergau ein. Mit Laienspielen war er quasi aufgewachsen, sein Vater studierte als Junglehrer mit der katholischen Jugend religiöse Stücke ein. Was Arretz in Oberammergau sah, war aber eine ganz andere Liga. Auch wenn die Spiele damals im Vergleich zu heute „einfacher“ waren: „Das waren kolossale Eindrücke.“ Wie dieser ganze Ort mit den Passionsspielen lebte, wie sich hier alles ums Theater drehte, das beeindruckte ihn schwer. Spontan nahm sich das junge Paar vor, die Spiele von nun an alle zehn Jahre zu besuchen. 1980 konnte seine Frau nicht mitkommen, ihr jüngster Sohn war gerade geboren. Ansonsten kamen sie immer gemeinsam: zu den Jubiläumsspielen 1984, 1990, 2000 und 2010. Jeden seiner drei Söhne nahm er einmal mit, bei zweien fiel der Besuch passenderweise ins Jahr ihrer Erstkommunion.

So konnte Arretz genau mitverfolgen, wie sich die Spiele über die Jahrzehnte gewandelt haben. „Der große Umbruch kam 1990, als Christian Stückl die Spielleitung übernommen hat. Seitdem hat sich unheimlich viel zum Positiven verändert, es wird so viel mehr Aufwand betrieben bei den Kostümen und den lebenden Bildern.“ Besonders imponiert hat ihm, wie die Spiele 2010 in den Nachmittag und Abend verlegt wurden: „Die Stimmung war auf einmal viel intensiver. Bei der Kreuzigungsszene konnte man schon immer eine Stecknadel im Saal fallen hören. Das ist ein Erlebnis, das man ein Leben lang mitnimmt. Aber in der Dämmerung war das noch viel ergreifender.“ Auch bei den Volksszenen laufe ihm jedes Mal ein kalter Schauer den Rücken herunter. Seine Frau, die seit über 30 Jahren Flüchtlinge betreut, war immer wieder erschüttert, wenn der wütende Mob die Kreuzigung fordert: „Diesen unkontrollierten Hass gibt es leider immer noch“, sagte sie dann jedes Mal zu ihrem Mann.

Elfriede und Clemens Herrmann waren 1970 nur im Ort, um das Geld aus der Brautschuhversteigerung in Trachten zu investieren. Karten für die Passion hatten sie nicht: „Damals gab es ja noch kein Internet, da war das ja auch nicht so einfach, an Karten zu kommen.“ Mit einem ordentlichen Sonnenbrand, den sie sich am Staffelsee geholt hatten, fuhren die beiden von Murnau, wo sie nächtigten, nach Oberammergau. Sie schauten sich die Krippenausstellung im Passionstheater an, wo an diesem Tag keine Vorstellung stattfand – und dachten sich: „Pfeif auf Janker und Dirndl – wir kaufen eine echte Oberammergauer Krippe.“ Eine gute Investition, findet Clemens Herrmann noch heute. Der Janker hätte ihm wohl nach einem Jahr nicht mehr gepasst, die Krippe dagegen ist noch immer im weihnachtlichen Einsatz. Der Hobby-Filmer Herrmann kaufte auch noch einen Super-8-Film mit Aufnahmen aus der Passion, die er in ihren Hochzeitsfilm montierte. „Im Gegensatz zu dem Film aus Neuschwanstein war der aus Oberammergau von guter Qualität. Den konnte man digitalisieren“, erzählt er. „Und interessant war der auch: Da waren teilweise zünftige alte Herren dabei.“ Nach ihrem Oberammergau-Ausflug fand sich das Ehepaar Herrmann dann auf einmal in dem schweren Unwetter in Murnau wieder, das zu den Überschwemmungen führte. „Zum Glück hatten wir unsere Krippe schon bei uns im Auto in trockenen Tüchern“, so Herrmann. 

2020 wollte Arretz mit einem Teil der Laienspielgruppe „Salz & Pfeffer“ der Kolpingfamilie Vorst aus Tönisvorst anreisen, die er seit 1999 leitet. Wer selbst Theater spielt, müsse das mal erleben, meint er, denn „beschreiben kann man das nicht, was da in Oberammergau passiert“. Als die Verschiebung der Spiele wegen der Corona-Pandemie bekannt wurde, war Arretz zwar nicht überrascht, aber doch ergriffen. Er hat sich auf Youtube Berichte über die Absage angesehen, hat sich online angehört, wie am Karfreitag Teile der Passionsmusik im menschenleeren Ort erklangen. „Da war ich fassungslos“, erinnert er sich. Und man hört, dass er schlucken muss. Seine Leute hat er über die Verschiebung informiert und abgefragt, wer 2022 mitfahren wolle. Es wollten alle. Die Karten sind längst umgebucht: dieselbe Reihe, dieselben Sitze. Nur eben zwei Jahre später. Und bis dahin bleiben ihm seine Oberammergau-Devotionalien. Arretz hat sämtliche Bildbände und Textbücher seit 1970 gesammelt. Und einiges mehr an Literatur über seinen Lieblingsort im Bayerischen.

Elfriede und Clemens Herrmann an ihrem Hochzeitstag (Foto: privat)

Elfriede und Clemens Herrmann wollten die Passion 2020 zum ersten Mal besuchen, zu ihrer goldenen Hochzeit. Nochmal nach Murnau ins Griesbräu reisen, auf alten Spuren wandeln. Das haben sie nun trotzdem gemacht, auch wenn es mit den Spielen wieder nicht geklappt hat. In Murnau war es wunderbar wie damals: „Tolles Bier, schöne Zimmer, nichts zu klagen.“ Auch das Wetter bescherte ihnen „ein kleines Déjà-Vu: Wiederum gab es zwei Tage Dauerregen und die Olympiastraße stand wie 1970 unter Wasser.“ Ihre Karten für die Passion haben sie erstmal storniert. Ob sie es 2022 noch einmal versuchen? „Ja, das kann schon passieren“, so Herrmann. „Jetzt kann man ja einfach übers Internet buchen.“

Text: Anne Fritsch
Fotos: privat

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